Missing Link: Wenn Einsteins kosmologische Konstante nicht konstant ist

Seite 4: Gravitationsmodelle als Open Source

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Nguyen bevorzugt daher die zweite Möglichkeit zur Auflösung des Problems: eine alternative Variante der Gravitation. Es geht hier allerdings nicht um MOND, AQUAL oder andere Varianten, die die Entfernungsabhängigkeit der Newtonschen Gravitation modifizieren, um die Dunkle Materie loszuwerden, sondern um Modifikationen der Allgemeinen Relativitätstheorie, die sich auf die Entwicklung der Dunklen Energie über die Zeit beziehen. Dazu gehören insbesondere Varianten der Theorie von Gregory Horndeski, die schon seit 1974 entwickelt werden und die Einsteins Theorie "skalare Felder" hinzufügen, um beispielsweise eine als "Quintessenz" bezeichnete 5. Grundkraft in das Einsteinsche Modell zu integrieren, die eine variable Dunkle Energie begründen könnte (und die Existenz einer Dunklen Energie überhaupt).

Skalare Felder sind ganz allgemein einfach ortsabhängige physikalische Größen, die jedem Ort einen "skalaren", das heißt eindimensionalen, ungerichteten Wert zuordnen. Die Temperatur oder der Luftdruck an verschiedenen Orten könnte man beispielsweise als Skalarfelder bezeichnen. Ein Vektorfeld wäre hingegen ein Feld mit einer gerichteten Größe, etwa der Windrichtung oder der Richtung der Gravitation um eine Masse herum.

In der Kosmologie geht es bei den Skalarfeldern um eine Größe, die mit der Materie wechselwirken soll, und die mutmaßlich mit neuen Austauschteilchen (Bosonen) verbunden wäre. Die Motivation, solche Felder zu postulieren, liegt unter anderem darin begründet, dass der Betrag der Dunklen Energie als Form von Vakuumenergie bisher nicht quantitativ aus der Quantenphysik hergeleitet werden kann. Was ziemlich untertrieben ist: summiert man die Effekte der laut der Quantenfeldtheorie im Vakuum allgegenwärtigen virtuellen Partikel auf, die sich zum Beispiel im Casimir-Effekt bemerkbar machen, so kommt man auf eine Vakuumenergie, die um den Faktor 10122 größer ist als diejenige Energie, die zur Erklärung der Dunklen Energie erforderlich wäre. Es müsste zu ihrer Quantifizierung einen Effekt geben, der diese gigantische Diskrepanz beinahe komplett kompensiert, aber eben nicht völlig, und damit tut sich die Physik schwer. Eine komplette Kompensation auf 0 wäre deutlich einfacher zu begründen als ein Feintuning, wie es die Dunkle Energie als Vakuumenergiedichte erfordert. Aber vielleicht wird die Dunkle Energie von einem ganz anderen Feld verursacht.

Ein solches Feld könnte auch die kosmische Inflation angetrieben haben (seit jeher ist in diesem Zusammenhang von einem nicht näher spezifizierten "Inflaton-Feld" die Rede) und heute in abgeschwächter Form weiter seine Wirkung als Dunkle Energie entfalten. Die Einführung eines zusätzlichen Skalarfelds ist die einfachste mögliche Erweiterung der Einsteinschen Feldgleichungen, die als Spezialfall eines Skalarfelds, das überall den Wert 0 hat, enthalten sind.

In einer weiteren Arbeit von Nguyen, Huterer und Wen, mit letzterer als Hauptautorin, "Sweeping Horndeski canvas: new growth-rate parameterization for modified gravity theories", die im September 2023 im Journal of Cosmology and Astroparticle Physics erschien, versuchten sie, ein Horndeski-Modell zu finden, welches das von ihnen gefundene Strukturwachstum am besten approximiert. Dazu generierten sie mit Hilfe eines Open-Source-Softwarepakets 18.000 verschiedene Horndeski-Modelle mit unterschiedlichen Parametern. Man muss heute nicht mehr unbedingt eine Koryphäe in vierdimensionaler Differentialgeometrie sein, um Gravitationsmodelle zu entwickeln.

Die Forschenden fanden für das beste Horndeski-Modell einen von der Rotverschiebung abhängigen Wachstumsindex γ(z) = γ0 + γ1 z²/(1+z) mit γ0 = 0,621±0,03 und γ1 = 0,149±0,235 als beste Näherung für das von ihnen postulierte Strukturwachstum. Während die Komponente γ0 = γ(z=0) dabei noch eine physikalische Bedeutung hat (der Wachstumsindex im heutigen Universum) ist γ1 einfach der zweite Koeffizient einer an dieser Stelle abgebrochenen Reihenentwicklung zur Approximation der Werte aus dem zugehörigen Horndeski-Modell, wie im folgenden Bild zu sehen:

Der Wert der Wachstumsfunktion fσ¡8, in Abhängigkeit von der Rotverschiebung, die synonym für die Entfernung und damit das Weltalter steht. z=5 bedeutet ein Weltalter von rund 1,2 Milliarden Jahren. Die senkrechten schwarzen Linien an der Kurve im oberen Bild entsprechen einem von Wen, Nguyen und Huterer ausgewählten Horndeski-Modell mit den bei zukünftigen Beobachtungen zu erwartenden 1σ-Fehlerintervallen. Die gestrichelten Linien repräsentieren Näherungen für verschiedene Reihenentwicklungen des Wachstumsindex γ(z), wie in der Legende beschrieben.
Im unteren Bild sieht man die "Residuen", das heißt die Abweichung vom theoretischen Modellwert, in Prozent. Die Einfärbung der Kurven entspricht dem oberen Bild. In hellgrau sind die zu erwartenden Fehlerintervalle unterlegt. Die orangefarbene Approximation in der obersten Reihe ergibt die kleinste Abweichung vom theoretischen Wert.

(Bild: Wen, Nguyen, Huterer, Open Access – CC BY 4.0 DEED))

Es liegt dem Modell folglich keine nähere physikalische Motivation zugrunde, sondern es wurde durch Probieren (eben "sweeping [the] Horndeski canvas") einfach eine Funktion ausgewürfelt, die den Daten der Forschenden am nächsten kommt und die nicht im Widerspruch zu kosmologischen Messwerten in ihren bekannten Fehlergrenzen steht.

Was die Frage aufwirft, wie wasserdicht die Daten überhaupt sind. Dazu gibt es ein interessantes Interview auf dem an Studierende der Kosmologie gerichteten Youtube-Kanal Cosmology Talks, in welchem Nguyen seine Arbeit vorstellt und der fachkundige Moderator Shaun Hotchkiss ihn anschließend dazu befragt.

Bei 30:15 Minuten fragt Hotchkiss, ob Nguyen auch die Kombination der Daten von PL18 + DESY1 + BAO, also ohne die Rotverschiebungsdaten von fσ8, untersucht habe. Die fσ8-Reihe ist nämlich in allen in der Arbeit mit den Planck-2018-Daten verglichenen Datenreihen enthalten und könnte also die Ergebnisse einseitig verschoben haben. Andere Teams hätten diese Kombination bereits untersucht, aber er könne sich nicht erinnern, dass jemand behauptet habe, sie würde die S8-Spannung verkleinern. Nguyen räumt daraufhin ein, dass der Datenfit für fσ8 alleine schlechter werde, wenn man die Daten von DESY1 und BAO mit hinzunehme, sodass der Einwand berechtigt sei, dass der Datenfit nur für DESY1 und BAO noch schlechter sein könnte. Später erwähnt er, dass die Akzeptanz der fσ8-Rotverschiebungsdaten in der Kosmologie-Community nicht sehr groß sei.

In einer Diskussion über den negativen Krümmungsparameter Ωk fragt Hotchkiss bei 37:18, ob die mit PL18 bezeichneten Daten nur Temperatur und Polarisation berücksichtigten, oder auch den Gravitationslinseneffekt. Das Licht der Hintergrundstrahlung passiert nämlich auf dem Weg zur Erde zahlreiche Galaxienhaufen, die die Amplituden der Temperaturunterschiede in der Hintergrundstrahlung verschmieren, und das muss bei der Analyse berücksichtigt werden. Nguyen antwortet, dass die mit "PL18" bezeichnete Datenreihe den Linseneffekt berücksichtige, die mit "PL18 Temperatur + Polarisation" hingegen nicht. Woraufhin Hotchkiss anmerkt, dass er Arbeiten gelesen habe, die bei einer Betrachtung nur der Temperatur und Polarisationsdaten von Planck eine Krümmung oder Modifikation von ΛCDM zu befürworten schienen; berücksichtige man jedoch den Gravitationslinseneffekt, dann werde alles wieder zu ΛCDM hingezogen. Woraufhin Nguyen entgegnet, dass er nicht sagen würde, dass das Modell mit höherem γ die Hintergrundstrahlung mit Gravitationslinseneffekt viel besser annähere als ΛCDM, aber dass das Modell mit höherem γ die Hintergrundstrahlung mit Gravitationslinseneffekt besser annähere als der negative Krümmungsparameter. Oder anders gesagt, mit Gravitationslinseneffekt ergibt sich kaum ein Vorteil für einen höheren γ-Wert.

Bei 44:31 fragt Hotchkiss nach einer möglichen physikalischen Begründung für den höheren γ-Wert und ob es spezifische Modelle mit modifizierter Gravitation gebe, die ihn nahelegten. Nguyen antwortet darauf, dass es nur wenige Modelle mit modifizierter Gravitation gebe, die zu einem unterdrückten Wachstum der kosmischen Strukturen führten. Auf Nachhaken von Hotchkiss, warum das so sei, gibt er zurück, dass er kein Experte für modifizierte Gravitation sei, aber Leute, die sich damit auskennen, hätten ihm erklärt, dass es nur wenige Gravitationsmodelle mit unterdrücktem Wachstum gebe. Die Horndeski-Modelle seien jedoch dazu in der Lage und deswegen würden sie diese nun selbst untersuchen (das Interview erschien vor dem "sweeping Horndeski canvas"-Aufsatz).

Schließlich stellt Hotchkiss bei 49:24 die etwas gemeine Frage, was Nguyen als plausibelsten Grund dafür sehe, dass das alles womöglich nicht stimme. Nguyen entgegnet, dass die Autoren sich das jede Nacht fragten und zieht zwei Möglichkeiten in Betracht: systematische Fehler in den Daten der Galaxienbewegung (Rotverschiebungsdaten fσ8) oder systematische Fehler in den Planck-Daten. Daher wolle er die Analysen mit unabhängigen Daten wiederholen. Hotchkiss ergänzt, dass die Umkehrung des berühmten Satzes, man solle keinem Modell glauben, das nicht durch Daten gestützt werde, genauso wahr sei: Man solle keinen Daten glauben, die nicht durch ein Modell gestützt werden, denn es gebe so viele Fehlermöglichkeiten bei der Messung der Daten. Man habe ein viel belastbareres Argument, wenn man ein begründetes Modell vorweisen könne, das genau die beobachteten Daten vorhersagt.

Die Analyse mit unabhängigen Daten wurde indes bereits von einer anderen Forschergruppe durchgeführt. In einer neuen, im September 2023 eingereichten Arbeit geben Farren, Krolewski, MacCrann, Ferraro und andere an, mit dem Atacama Cosmology Telescope, einem Mikrowellen-Radioteleskop in der chilenischen Atacama-Wüste, keinen Hinweis auf eine S8-Spannung zwischen Messungen im nahen Universum gegenüber solchen bei hohen Rotverschiebungen gefunden zu haben, sondern nur Abweichungen zwischen den Werten auf unterschiedlichen Skalengrößen.

Das Hauptergebnis der Arbeit von Farren, Krolewski, MacCrann, Ferraro et al. ist, dass ihre Messungen mit dem Atacama Cosmology Telescope (ACT DR6 = Datenrelease 6) kombiniert mit den Daten von Planck und beschränkt auf Galaxien des unWISE-Datenreleases des WISE-Infrarot-Weltraumteleskops keinen Hinweis auf eine S¡8-Spannung oder ein unterdrücktes Strukturwachstum finden. Sie ermitteln ein S¡8 von 0,810±0,015 (linkes Bild) und wenn man die BAO-Daten hinzu nimmt ein σ¡8 von 0,813±0,015. In den Diagrammen sind die Planck-Messungen an der Hintergrundstrahlung (Cosmic Microwave Background, CMB) grau gestrichelt dargestellt. In beiden Bildern überlappen die Planck-Kurven die ACT-Ergebnisse deutlich, die Differenz liegt unter einer Standardabweichung. Angesichts der sehr verschiedenen Messmethodik ist das keine signifikante Abweichung.

(Bild:  Farren, Krolewski, MacCrann, Ferraro et al. , mit freundlicher Genehmigung von Gerrit S. Farren)

Wie in der im vorangegangenen Artikel betrachteten Arbeit gilt also auch hier und generell, dass eine Schwalbe noch keinen Sommer und ein einsamer Aufsatz kein neues Gravitationsgesetz begründet.

Ohnehin ging es in der in diesem Artikel betrachteten Arbeit nicht um eine Alternative zur Dunklen Materie oder Dunklen Energie, sondern vielmehr um eine alternative Form der Dunklen Energie, die nicht konstant ist. Das von Nguyen, Wen und Huterer gefundene Horndeski-Modell und sein variabler γ-Wert wurden unter hohem Rechenaufwand durch numerische Approximation der zugrunde gelegten Daten gefunden, die aus als unsicher geltender Quelle (Streuung der Rotverschiebung) stammen und die möglicherweise nicht frei von systematischen Fehlern sind. Unabhängige Messungen eines anderen Teams scheinen das zu bestätigen. Das soll nicht heißen, dass Nguyen, Huterer und Wen notwendig falsch liegen, sondern lediglich, dass ihre Arbeit kein belastbares Argument dafür liefert, die Allgemeine Relativitätstheorie oder das ΛCDM-Modell auszumustern. Dazu ist deutlich mehr und stärkere Evidenz erforderlich.

Insofern wäre es auch hier verfrüht, Einstein abzuschreiben. Den geneigten Leserinnen und Lesern sei an Herz gelegt, Medienberichte über spektakuläre Durchbrüche (wir erinnern uns an den Hochtemperatur-Supraleiter) mit gebührendem Skeptizismus zu begegnen. Und den Medien sei nahegelegt, die Ergebnisse von Einzelarbeiten nicht über Gebühr aufzubauschen. Damit erweisen sie der Glaubhaftigkeit der Wissenschaft einen Bärendienst. Denn viele Laien verstehen oder wissen nicht, dass Wissenschaft aus Versuch und Irrtum besteht. Sie ist nicht ein Depot allumfassenden, unumstößlichen Wissens, sondern eine Methodik, Wissen zu erlangen und ihre Stärken sind die Selbstkorrektur und der fortwährende Abgleich mit der Realität.

Quellen:

(mho)