Missing Link: Wenn Einsteins kosmologische Konstante nicht konstant ist

Angeblich wachsen große Strukturen im Universum zu langsam für Einsteins Gravitationsgesetz. Eine detaillierte Analyse erklärt, worum es dabei geht.

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Ausschnitt aus der Illustris-Simulation zur Strukturbildung im Universum. Der Durchmesser des Bildausschnitts beträgt rund 70 Millionen Lichtjahre. Er repräsentiert den heutigen Zustand der Strukturbildung. Die dunklen Filamente bilden die Verteilung der Dunklen Materie ab, die rötlich-gelben Flächen das sichtbare Gas und dessen Bewegung. Je heller die Farbe, desto schneller bewegt sich das Gas.

(Bild: Illustris Collaboration / Illustris Simulation, mit freundlicher Genehmigung von Dylan Nelson, Illustris Collaboration)

Lesezeit: 37 Min.
Von
  • Alderamin
Inhaltsverzeichnis

Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie, welche sowohl die Schwerkraftwirkung von Massen bis hin zu Schwarzen Löchern als auch die Entwicklung des Universums insgesamt beschreibt, hat sich über 100 Jahre lang bewährt und bisher alle Tests mit fliegenden Fahnen bestanden. Sie umfasst die ältere Newtonsche Gravitationstheorie als Spezialfall für kleine Massen oder große Entfernungen. Bei der Beschreibung der Rotation von Galaxien und der Expansion des Weltalls kommt sie jedoch nicht ohne Zusatzannahmen wie dem Vorhandensein riesiger Mengen unsichtbarer Dunkler Materie und einer physikalisch bisher nicht begründeten kosmologischen Konstante aus, sodass die Rufe nach einer Modifikation nicht verstummen. Ein überzeugender Nachweis für die Gültigkeit alternativer Theorien konnte bisher jedoch nicht geliefert werden, und keine Alternative ist annähernd so erklärungsmächtig wie die Relativitätstheorie.

In den vergangenen Monaten wurden auf Heise Online zwei Arbeiten vorgestellt, die auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, dass die Allgemeinen Relativitätstheorie und damit auch der gute alte Newton ins Wanken gebracht worden seien. Aber wie sieht es auf den zweiten Blick aus? In einer kleinen Reihe möchte ich die Arbeiten näher beleuchten, um die Frage zu klären, wie diese Aussagen zu bewerten sind. Oder um es mit Giovianni Trapattoni zu sagen: Haben Newton und Einstein fertig?

Im heutigen Artikel geht es um eine Arbeit von Nhat-Minh Nguyen, Dragan Huterer und Yuewei Wen, alle drei tätig an der Universität von Michigan in Ann Arbor, USA. Sie behaupten in ihrem Aufsatz "Evidence for suppression of structure growth in the concordance cosmological model", dass sie einen 4,2σ-starken Beleg dafür gefunden hätten, dass das Strukturwachstum im Universum nicht kompatibel sei mit dem ΛCDM-Modell des Universums und der Allgemeinen Relativitätstheorie. Dabei zweifeln sie weniger an den Annahmen des ΛCDM-Modells, des Standardmodells der Entwicklung des Universums mit euklidischer Geometrie, Dunkler Energie und kalter Dunkler Materie, sondern vielmehr an Meister Einsteins Gravitationsgesetz und schlagen ein alternatives Modell vor. Um nachzuvollziehen, wie sie zu dieser Behauptung gekommen sind, müssen wir ein wenig ausholen.

Gemäß der Urknalltheorie entstand das Universum aus einem winzig kleinen, unvorstellbar heißen Volumen im Mikrokosmos der Quantenwelt, das sich rasch ausdehnte und abkühlte. Nach 10-37 Sekunden vollzog sich ein Phasenübergang, der die Abstände im Universum ruckartig binnen 10-33 Sekunden um mindestens den Faktor 1026 aufblähte: die kosmische Inflation. Der Durchmesser eines Wasserstoffatoms (deren es noch keine gab) vergrößerte sich in einem Bruchteil einer Sekunde, weitaus kürzer im Verhältnis zu einer Sekunde als sich eine Sekunde zum Alter des Universums verhält, auf ein Lichtjahr, 1 mm auf 10 Milliarden Lichtjahre. Die Fluktuationen der Quantenfelder aus der Zeit vor der Inflation wurden so ins Makroskopische transformiert.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Vermutlich wurde die Inflation von einer immens hohen Vakuumenergiedichte angetrieben. Die Inflation endete, als das Universum einen weiteren Phasenübergang zu einer niedrigeren, der heutigen Vakuumenergiedichte durchmachte, und die Energiedifferenz als Strahlung freisetzte. Aus dieser Strahlung entstanden dann innerhalb von wenigen Minuten im heißen Feuerball des Urknalls Quarks und Leptonen, Kernteilchen und schließlich die Atomkerne von Wasserstoff und Helium (sowie Spuren der drei nächstschwereren Elemente).

Nach diesem fulminanten Beginn legte das Universum ein gemächlicheres Tempo ein und während der nächsten knapp 400.000 Jahre passierte wenig Monumentales. Ein sich ausbreitendes heißes, undurchsichtiges Plasma aus Atomkernen, Elektronen und Photonen erfüllte den gesamten, stetig wachsenden Raum, in dem es ungefähr so aussah wie im Inneren eines Sterns – und dennoch entstanden in dieser Zeit die Keime für die Struktur unseres heutigen Universums.

Denn durch die einkehrende Ruhe gewann die Gravitation Zeit, ihre Kraft zu entfalten. Das Gas war nicht absolut gleichförmig verteilt, sondern es gab Zonen mit geringfügig erhöhter Dichte und Temperatur, und solche mit entsprechend geringerer, die aus den während der Inflationsphase ins Gigantische vergrößerten Fluktuationen der Quantenfelder vor der Inflation entstanden waren. Mit dem weiteren Anwachsen des Universums wuchsen auch sie nun weiter mit und sorgten dafür, dass die Materie, sichtbare wie dunkle, nicht vollkommen gleichmäßig verteilt war. Wo die Dichte am höchsten war, war es auch die Gravitation, und diese zog die umgebende Materie an.

Die Kompression der Materie heizte das baryonische (gewöhnliche, hauptsächlich aus Protonen und Neutronen, das heißt Baryonen, bestehende) Gas auf, und die dabei entstehende Wärmestrahlung trieb es schließlich wieder auseinander.

Die Dunkle Materie, die mit den Photonen der Wärmestrahlung nicht interagierte, verblieb hingegen an ihrem Ort und zog die sich abkühlende, expandierende baryonische Materie schließlich wieder zu sich zurück, verdichtete und heizte sie erneut auf, und das Spiel begann von vorne. Die periodischen Verdichtungen des Gases bezeichnet man als "Baryonische Akustische Oszillationen" (BAO), denn sie betrafen nur die baryonische Materie und sie waren nichts anderes als sich ausbreitende Druckwellen, auch bekannt als Schall.

Nach einigen wenigen Oszillationen binnen 380.000 Jahren war das Gas auf etwa 3000 K abgekühlt, sodass es transparent wurde und nicht mehr von der Strahlung der Kompressionswärme auseinandergetrieben werden konnte. Damit endeten die baryonischen akustischen Oszillationen und die von ihnen geformten Strukturen wurden eingefroren. Die Photonen konnten sich seither geradlinig ausbreiten und sie erreichen uns heute von Orten, von wo aus sie 13,8 Milliarden Jahre gegen die kosmische Expansion ankämpfend benötigten, bis sie uns erreichten. Ihre Wellenlängen wurden um mehr als das Tausendfache durch die kosmische Expansion gedehnt und ihre Temperatur ist um den gleichen Faktor von 3000 K auf 2,73 K gefallen, sodass sie hier nun als Mikrowellen eintreffen: die kosmische Hintergrundstrahlung. Sie zeigt uns an den fernsten Orten, die wir mit den heutigen Mitteln erforschen können, wie das Universum am Ende des Feuerballs ausgesehen hat, als es noch keine Sterne und Galaxien gab.

Der kosmische Mikrowellenhintergrund, eingefangen von der ESA-Sonde Planck

(Bild: ESA/Planck Collaboration)

Wenn man die winzigen Temperaturunterschiede in der Hintergrundstrahlung auf hunderttausendstel Grad genau auflöst, kann man die von den baryonischen akustischen Oszillationen hinterlassenen Strukturen im kosmischen Mikrowellenhintergrund sichtbar machen. Sie sind seither um den Faktor 1000 angewachsen und bilden das Grundgerüst des sogenannten kosmischen Netzes, welches das Universum durchzieht. Die Wellenzüge, die die größte Ausdehnung erreicht hatten, bilden heute blasenförmige Strukturen von 500 Millionen Lichtjahren Durchmesser, und die Abkürzung "BAO" wird von den Kosmologen synonym für diese großräumigen Strukturen verwendet. Entlang der Strukturen aus verbundenen Filamenten und Knoten sammelte sich unter dem Einfluss der Gravitation die Dunkle und leuchtende Materie und kollabierte weiter zu Galaxienhaufen, einzelnen Galaxien und ihren Sternen und Planeten.

Wie genau die Strukturbildung ablief, ist aktuell ein heißes Thema der Kosmologie. Wie lange dauerte es, bis Sterne und Galaxien entstanden? Wie entstanden ihre zentralen supermassereichen Schwarzen Löcher? Wie entwickelte sich das Wachstum des Universums insgesamt über das bisherige Weltalter?