Missing Link: Zwangsmaßnahme Digitalisierung – kein Platz für alte Menschen?

Seite 3: Bestandsgarantie für etablierte Kommunikationswege

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Nichts gegen WLAN im Seniorenheim. Sicherlich werden unter denen, die in den kommenden Jahren dorthin umziehen, immer mehr sein, die ihren Laptop mitbringen und weiterhin Internet und andere digitale Medien nutzen wollen. Aber sie müssen die Möglichkeit haben, das auf dem Stand ihrer Wahl zu tun. Es darf keinen Zwang geben, jeder neuen Sau, die im Kampf um Kommunikationsstandards von IT-Unternehmen durchs Dorf getrieben wird, hinterherlaufen zu müssen. Es muss eine Bestandsgarantie für etablierte Kommunikationswege geben. Die kann wahrscheinlich nur der Staat gewährleisten. Der Wille dazu, siehe Schäuble, scheint indessen nicht sehr stark ausgeprägt zu sein.

Auch gegen "lebenslanges Lernen“ ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Wohl aber gegen von außen verordnete Lerninhalte. Es gibt einige Themen, mit denen ich mich in den mir verbleibenden Jahren noch intensiver beschäftigen möchte. Das Ergründen der Geheimnisse neuer Betriebssysteme oder das Einarbeiten in die Denkweise von Informatikern gehören nicht dazu. Ich möchte gern noch ein paar Bücher schreiben und nicht gezwungen sein, das Lesen und Schreiben immer wieder neu lernen zu müssen.

Ich muss in diesem Zusammenhang immer wieder an ein Interview denken, das ich vor über 20 Jahren geführt habe. Mein Gesprächspartner Rudolf Jüdes hat mir damals im Hinblick auf die Nutzung digitaler Medien im Alter eine wichtige und unvergessliche Lektion erteilt. Im Interview wurde er als "Herr J.“ anonymisiert, um ihn zu schützen, denn er lebte als fast vollständig gelähmter ALS-Patient in einem Pflegeheim. Dank eines Computers mit Sprachsteuerung und einem Beamer, der den Bildschirminhalt an die Decke projizierte, konnte der ehemalige Journalist wieder Texte verfassen. Ich sprach mit ihm über seine Erfahrungen damit und fragte ihn im Verlauf des Gesprächs, ob er nicht auch das Internet nutzen wolle. "Mir ist schon klar, daß man da ungeheuer viel herausholen kann“, antwortete er. "Aber ich fürchte mich davor, meine Zeit zu verzetteln.“ So steht es in der Schriftfassung des Interviews, die bei Spiegel Online dankenswerterweise immer noch zugänglich ist.

Tatsächlich hatte ich im Gespräch aber allen Ernstes noch einmal nachgehakt und versucht, Herrn Jüdes zu ermuntern, es doch einmal zu versuchen. Das war sicherlich zum einen seiner beeindruckenden Persönlichkeit geschuldet. Er war geistig voll da und wirkte überhaupt nicht wie ein Sterbender auf mich. Vor allem aber ging meine damalige Begeisterung für die kommunikativen Möglichkeiten des Internets mit mir durch, die ich zu der Zeit auch als Webjockey Virtuella in Live-Performances und Chatrooms erkundete. Mich faszinierte die Vorstellung, wie dieser physisch fast schon nicht mehr präsente Mensch sich im Internet noch einmal entfalten und in der virtuellen Realität vollkommen gleichberechtigt am Sozialleben teilhaben könnte.

So musste ich mich von Herrn Jüdes daran erinnern lassen, dass er 75 Jahre alt sei und schon seit mehreren Jahren auf Abruf lebe. Dass ich ihm wie ein Handelsvertreter nahegelegt habe, doch unbedingt mal E-Mail und Online-Chats auszuprobieren, ist mir im Rückblick peinlich. Dieser Tritt ins Fettnäpfchen bedeutete aber eben auch eine wichtige Lektion über würdevolles Altern und Sterben, für die ich ihm überaus dankbar bin und die ich mittlerweile, nachdem auch für mich das letzte Lebensdrittel angebrochen ist, viel besser verstehe: Angesichts der Endlichkeit des Lebens wird die Zeit zu einer immer wertvolleren Ressource, die ich nicht mehr mit Geräten verzetteln will, die schon wieder veraltet sind, bevor ich die Bedienungsanleitung halb durchgelesen habe.

Meine Hoffnung, dass mir dieses Schicksal erspart bleibt, ich gebe es zu, ist angesichts einer Politik, die sich seit Jahrzehnten vornehmlich als Dienerin des Wirtschaftswachstums begreift, gering. Ob die Covid-19-Epidemie, wie von einigen verkündet, das Ende des Neoliberalismus eingeläutet hat und zu einer Verschiebung der Werte hin zu mehr Solidarität, gesellschaftlichem Zusammenhalt und Ausgleich der Gegensätze führt, ist noch nicht ausgemacht. Doch vollkommen düster sind die Aussichten auch nicht: Wenn ich eines Tages im voll digitalisierten Pflegeheim durch die Seniorenwaschanlage geschleust werde, kann ich immerhin noch darauf hoffen, dass ich in meiner fortgeschrittenen Demenz dann nichts mehr davon mitkriege.

(tiw)