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Nationale Wasserstoffstrategie: Tafelwasser oder Champagner der Energiewende?

Stefan Krempl

(Bild: petrmalinak/Shutterstock.com)

Vor einem guten Jahr hat die Bundesregierung die Nationale Wasserstoffstrategie beschlossen. Kritiker monieren, dass der Zug noch kein Tempo aufgenommen hat.

Wasserstoff soll der Heilsbringer in der Energiewende werden. Was nicht direkt oder ausreichend bequem elektrifiziert werden kann, soll mit Wasserstoff angetrieben werden. Dementsprechend misst die deutsche Bundesregierung Wasserstoff eine bedeutende Rolle in der Dekarbonisierung der deutschen Wirtschaft zu. Unsere Artikelserie will die Pläne der Bundesregierung genauer unter die Lupe nehmen und konkrete Anwendungsbereiche – insbesondere im KFZ-Bereich – beleuchten. Was technisch möglich ist, soll auch auf Effizienz und Skalierbarkeit abgeklopft werden.

Saubere Energie ist ein alter Traum der Menschheit. Wasserstoff könnte ihn erfüllen, denn er könnte die Industrie, Flugzeuge und Züge antreiben sowie eventuell sogar den Verbrennungsmotor retten, ohne die Umwelt und das Klima zu verpesten: Das chemische Element H beziehungsweise der auf der Erde normalerweise vorkommende molekulare Stoff H2 hinterlässt bei der Verbrennung nur Wasser, kein CO₂ oder andere klimaschädliche Gase. Die Bundesregierung hat ihrer am 10. Juni 2020 verabschiedeten Nationalen Wasserstoffstrategie (NWS) so auch den vielversprechenden Untertitel "Schlüsselelement der Energiewende" spendiert.

Deutschland könnte bei dieser Evolution eine Schlüsselrolle spielen. Technologisch liegt die hiesige Industrie beim Erschließen der Potenziale von Wasserstoff weltweit ziemlich weit vorn. Allerdings schlummerte der von Wissenschaftlern schon lange hofierte Hoffnungsträger auch über Jahrzehnte hinweg einen Dornröschenschlaf. Zu billig und verlockend war das Verbrennen von Öl, Erdgas und anderer fossiler Rohstoffe.

Die Wasserstoff-Zukunft

Dazu kommt, dass die bisher in der Industrie eingesetzten Lösungen alles andere als sauber sind. Allein Betreiber chemischer Fabriken nutzen hierzulande jährlich knapp zwei Millionen Tonnen sogenannten grauen Wasserstoffs. Dieser wird aus fossilen Brennstoffen produziert. Meist wird dabei in Raffinerien Erdgas unter Hitze per "Dampfreformierung" in Wasserstoff und CO₂ umgewandelt. Generell liegt H2 immer gebunden vor, vor allem in Form von Wasser (H20). Um die begehrte Substanz herzustellen, muss das Wasserstoffmolekül abgespalten werden. Das gelingt nur in einem energieintensiven Prozess, sodass H2 als leicht förderbares Wundermittel ausscheidet.

Die Bundesregierung hat sich mit ihrer Strategie das Ziel gesetzt [8], Deutschland beim Einsatz von Wasserstoff als klimafreundlichen Energieträger global zum Vorreiter zu machen. Sie will einen "kohärenten Handlungsrahmen für die künftige Erzeugung, den Transport, die Nutzung und Weiterverwendung von Wasserstoff und damit für entsprechende Innovationen und Investitionen" schaffen. Auf 28 Seiten steckt sie dafür ihre Linie ab und formuliert 38 Maßnahmen zur Umsetzung.

"Eine erfolgreiche Energiewende bedeutet die Kombination von Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Umweltverträglichkeit mit innovativem und intelligentem Klimaschutz", beschreibt die Exekutive die Voraussetzungen. Dafür seien alternative Optionen zu den derzeit noch verwendeten fossilen, vor allem gasförmigen und flüssigen Energieträgern nötig. Wasserstoff bekomme "hier eine zentrale Rolle bei der Weiterentwicklung und Vollendung der Energiewende".

Das Potenzial von H2 legen die Autoren der NWS in diesem Lichte verständlich dar. Wasserstoff könne "angebotsorientiert und flexibel erneuerbare Energien speichern und einen Beitrag zum Ausgleich von Angebot und Nachfrage leisten", schreiben sie. "Bei verschiedenen chemischen und industriellen Prozessen ist Wasserstoff schon heute unabdingbar. Als Ausgangsbasis wird er zum Beispiel für die Herstellung von Ammoniak benötigt." Künftig solle hier der bereits verwendete fossil erzeugte Wasserstoff ersetzt werden.

Wasserstoff könne ferner weitere Produktionsprozesse in der Industrie dekarbonisieren, für die nach derzeitigem Stand der Technik keine anderen Verfahren zum Vermeiden von CO₂-Emissionen zur Verfügung stehen, heißt es. So sei für eine treibhausgasneutrale Erzeugung etwa von Primärstahl der Einsatz von H2 als Ersatz für Steinkohlenkoks derzeit der technologisch vielversprechendste Ansatz. Bestimmte industrielle CO₂-Quellen wie prozessbedingte Ausstöße der Zementindustrie ließen sich langfristig nur mithilfe von Wasserstoff klimaneutral gestalten. So könnten abgefangene industrielle CO₂-Emissionen mit Wasserstoff in verwertbare Chemikalien umgewandelt werden.

Großen Wert legt die Exekutive darauf, dass für den Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft mit ökologischen Fokus die gesamte Wertschöpfungskette in den Blick genommen werden muss. Sie bezieht sich dabei auf "Technologien, Erzeugung, Speicherung, Infrastruktur und Verwendung einschließlich Logistik und wichtige Aspekte der Qualitätsinfrastruktur".

Ein weiterer entscheidender Satz: "Aus Sicht der Bundesregierung ist nur grüner Wasserstoff auf Dauer nachhaltig, der auf Basis erneuerbarer Energien hergestellt wurde." Es gelte daher, diesen zu nutzen, zu unterstützen und die benötigten Infrastrukturen zu etablieren. Im Vordergrund steht also die Elektrolyse, bei der Wasser mithilfe von Strom etwa aus Wind- und Solarkraft in Wasserstoff und Sauerstoff zerlegt wird. Der erzeugte H2 kann dann etwa für chemische Prozesse direkt genutzt oder zu seinem Einsatzort transportiert werden.

Die Exekutive geht aber zugleich unter Verweis auf voraussichtliche Anforderungen des globalen und europäischen Markts davon aus, dass – zumindest für eine Übergangszeit – auch "CO₂-neutraler Wasserstoff" eine Rolle spielen und bei Verfügbarkeit genutzt werden wird. Laut der Darstellung in dem Papier handelt es sich also um einen Brennstoff, dessen Treibhausgasbilanz auf Netto Null hinauslaufen könnte. Schädliche Emissionen müssten dafür aber durch Reduktionsmaßnahmen wieder aus der Atmosphäre entfernt werden.

Die Wasserstoff-Farbenlehre

(Bild: Bundesnetzagentur [9] (PDF))

Als Beispiele nennt die Bundesregierung blauen und türkisen Wasserstoff. Bei ersterem lautet der Anspruch, das bei der Herstellung produzierte CO₂ abzuscheiden und unterirdisch per "Carbon Capture and Storage" (CCS) zu speichern. Forscher wie Johannes Emmerling vom European Institute on Economics and the Environment in Mailand gehen aber anhand von Studien und Szenarien davon aus, dass "umfangreiches CCS" nicht vor 2030 oder 2050 praktizierbar sein wird.

Neben technologischen Herausforderungen und hohen Kosten sei der niedrige CO2-Preis ein Grund dafür, dass sich umfangreiche Investitionen in eine solche Technologie noch nicht lohnten, erklärt der Wissenschaftler. Dafür wären höhere und stabile Kosten von 100 bis 200 Euro pro Tonne nötig. Zum Vergleich: Mit dem hiesigen Klimaschutzgesetz von 2019 soll der CO₂-Preis bis 2025 stufenweise auf 35 Euro steigen [10].

Türkiser Wasserstoff wird über die thermische Spaltung von Methan hergestellt. Anstelle von CO₂ entsteht bei dieser Methanpyrolyse fester Kohlenstoff. Wichtig dabei ist, dass die Wärmeversorgung des Hochtemperaturreaktors aus erneuerbaren oder CO₂-neutralen Energiequellen besteht. Als Grundstoff wird aber Erdgas genutzt, das zunächst aufwändig gefördert und transportiert werden muss.

In Deutschland treiben BASF und Wintershall Dea das Verfahren voran. Auch der russische Staatskonzern Gazprom verfolgt diesen Ansatz, dessen Klimabilanz schon aufgrund der großen Treibhausgas-Problematik von Methan [11] eher düster scheint. Hier von "CO₂-neutral" zu sprechen, ist gewagt.

Obwohl die Bundesregierung Wasserstoff in der Strategie insgesamt eine hohe Bedeutung auch beim Erreichen der Klimaziele zumisst, verknüpft sie damit keine neuen Geldmittel. Die Verfasser führen vielmehr bestehende Förderprogramme auf. Der größte Batzen stammt demnach aus dem Zukunfts- und Corona-Konjunkturpaket des schwarz-roten Koalitionsausschusses von Juni 2020 [12]. Es sieht vor, dass 7 Milliarden Euro "für den Markthochlauf von Wasserstofftechnologien" in Deutschland und 2 Milliarden für internationale Partnerschaften in diesem Bereich bereitgestellt werden. Die Produktion von grünem Wasserstoff wollen die Regierungsfraktionen dabei unterstützen und von der EEG-Umlage zum Ausbau der erneuerbaren Energien ausnehmen.

Im Rahmen des Nationalen Innovationsprogramms Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie (NIP) hatte die Exekutive schon von 2006 bis 2016 rund 700 Millionen Euro an Fördermitteln bewilligt, im aktuellen Zeitraum 2016 bis 2026 ergibt sich daraus ein weiteres Fördervolumen von bis zu 1,4 Milliarden Euro. Gut eine weitere Milliarde Euro für Wasserstoffprojekte steht über das Nationale Dekarbonisierungsprogramm von 2020 bis 2023 zur Verfügung. Dabei geht es um Investitionen in Technologien und großtechnische Anlagen in der Industrie.

Governance-Struktur der Nationalen Wasserstoffstrategie

(Bild: Die Nationale Wasserstoffstrategie [13] (PDF))

Zudem wird laut der NWS die anwendungsorientierte Grundlagenforschung zu grünem Wasserstoff im Rahmen des Energie- und Klimafonds von 2020 bis 2023 mit 310 Millionen Euro ausgebaut. Ferner sei beabsichtigt, die anwendungsnahe Energieforschung zu Wasserstofftechnologien mit 200 Millionen Euro von 2020 bis 2023 zu stärken. Schon zuvor habe man mit nicht aufgeschlüsselten Mitteln aus dem Energieforschungsprogramm dafür gesorgt, dass hierzulande eine "hervorragende Forschungslandschaft" habe entstehen können.

Bis 2030 sieht die Regierung dem Dokument zufolge einen Wasserstoffbedarf von 90 bis 110 Terawattstunden (TWh). Um zumindest einen Teil dieses Bedarfs national zu decken, sollen bis 2030 in Deutschland Erzeugungsanlagen von bis zu 5 Gigawatt (GW) Gesamtleistung einschließlich der dafür erforderlichen "Offshore- und Onshore-Energiegewinnung" entstehen, wobei vor allem Windparks in der Nord- und Ostsee im Gespräch sind. Dies entspreche einer grünen Wasserstoffproduktion von bis zu 14 TWh und einer benötigten erneuerbaren Strommenge von bis zu 20 TWh.

Für den Zeitraum bis 2035 beziehungsweise "spätestens bis 2040" sollen "nach Möglichkeit" weitere 5 GW zugebaut werden. Die Exekutive geht dabei von einem durchschnittlichen Wirkungsgrad der Elektrolyseanlagen von 70 Prozent sowie 4000 Volllaststunden aus. Das angesetzte Maß etwa für die Ausnutzung eingesetzter Windenergieanlagen ist recht hoch: ein Windrad, das eine Maximalleistung von 3000 Kilowatt (kW) aufweist, erzeugt jährlich circa 6 Millionen kWh Strom. Die Vollbenutzungsdauer liegt so bei 2000 Stunden. Mit dieser Größe rechnen etwa die Niederlande.

Zugutekommen soll das vorgesehene Wasserstoffvolumen vor allem der Industrie. Aktuell werde in Deutschland jährlich – größtenteils grauer – Wasserstoff im Umfang von rund 55 TWh für stoffliche Anwendungen genutzt. Diese müssten soweit wie möglich in eine auf grünem Wasserstoff basierende Produktion überführt werden. Schätzungen zufolge würde etwa die Transformation der heimischen Stahlproduktion hin zur Klimaneutralität bis 2050 über 80 TWh Wasserstoff benötigen. Die Umstellung der deutschen Raffinerie- und Ammoniakproduktion würde etwa 22 TWh grünen Wasserstoff erfordern.

Aber auch der Mobilitätssektor birgt nach Ansicht der Regierung "großes Potenzial" für den Einsatz von Wasserstoff. Insbesondere in der Luftfahrt, zu Teilen im Schwerlastverkehr, bei mobilen Systemen für die Landes- und Bündnisverteidigung und in der Seeschifffahrt seien viele Routen und Anwendungen nicht rein elektrisch darstellbar. Deshalb müssten hier die derzeit noch zu über 95 Prozent eingesetzten fossilen Einsatzstoffe und Energieträger durch Alternativen ersetzt werden, die auf erneuerbarem Strom basieren. Der Verkehrsbereich sei gezwungen, auf technologischen Fortschritt zu setzen, führt die Exekutive aus. Sonst könnten dort die sektoralen Klima- und Erneuerbaren-Ziele nicht erreicht werden, bei deren Einhaltung der Bereich bereits in Verzug ist.

Die Einführung von Brennstoffzellenfahrzeugen könne etwa im Öffentlichen Personennahverkehr bei Bussen und Zügen, bei Lkw und Nutzfahrzeugen etwa für den Einsatz auf Baustellen sowie in der Land- und Forstwirtschaft oder in der Logistik mit dem Lieferverkehr Spezialfahrzeugen wie Gabelstaplern "die batterieelektrische Mobilität ergänzen und den Ausstoß von Luftschadstoffen sowie CO₂-Emissionen erheblich senken".

Größeres Konfliktpotenzial birgt diese Ansage: "Auch in bestimmten Bereichen bei Pkws kann der Einsatz von Wasserstoff eine Alternative sein." Im ursprünglichen Entwurf der Strategie aus dem Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) hatte es sogar noch geheißen [14], dass die Brennstoffzelle im Pkw-Bereich "gute Perspektiven" habe. Dies gelte "insbesondere bei Fahrzeugen mit einem hohen Eigengewicht" wie SUVs, "im Dauerbetrieb und im Einsatz auf langen Strecken".

Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) hatte hier aber auf strenge ökologische Maßstäbe gedrängt [15], sodass das Bundeskabinett diese breite Formulierung strich. Vor allem Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer schwört trotzdem prinzipiell weiter auf E-Fuels auch für Pkws. Dabei handelt es sich um synthetische Kraftstoffe, die mithilfe von Strom aus Wasser und CO₂ produziert werden [16].

"Grüner Wasserstoff und Brennstoffzellen sind – quer über alle Verkehrsträger hinweg – eine super Ergänzung zu reinen Batteriefahrzeugen", betont der CSU-Politiker. "Um alle Bereiche der Mobilität mit Null-Emissionslösungen abzudecken, brauchen wir Technologieoffenheit." Deshalb unterstütze die Bundesregierung "auch die Brennstoffzellentechnologie sowie Fahrzeug- und Komponentenhersteller, um international den Anschluss nicht zu verpassen".

Scheuer will Wasserstoff generell wegbringen vom Image des exklusiven Prickel- und Sprudel-Images. "Viele sagen, Wasserstoff sei der Champagner unter den alternativen Kraftstoffen: viel zu teuer, viel zu knapp und viel zu aufwendig in der Herstellung". Das sei aber falsch, moniert der Minister: "Wir brauchen den Wasserstoff als Tafelwasser." Dass im Verkehrsbereich dafür auch der Aufbau eines dichten Netzes an H2-Tankstellen nötig wäre, erwähnt die Exekutive in dem Papier nur am Rande.

Den Bereich Heizung streift die Regierung in der NWS ebenfalls nur: Auch langfristig wird ihr zufolge nach Ausschöpfen der Effizienz- und Elektrifizierungspotenziale bei der Prozesswärmeherstellung oder im Gebäudesektor ein Bedarf an gasförmigen Energieträgern bestehen bleiben, der teils über Wasserstoff gedeckt werden könnte. Das bislang noch sehr wertvolle Gas ist für die Exekutive ferner auch ein Bildungsthema: "Die Wasserstoffwirtschaft braucht Fachkräfte – in Deutschland und im Ausland. Daher werden wir neue Wege in der Zusammenarbeit von Bildung und Forschung gehen." An diesem Punkt bleibt die Strategie aber vage.

Verwirklicht hat die Regierung bereits ihre Ansage, einen Nationalen Wasserstoffrat einzusetzen [17]. Er besteht aus 26 Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, die nicht Teil der öffentlichen Verwaltung sind. Ihre Aufgabe ist es, den Staatssekretärsausschuss durch Vorschläge und Handlungsempfehlungen bei der Umsetzung und Weiterentwicklung der Wasserstoffstrategie zu beraten und zu unterstützen. Einen ersten, bis 2025 ausgerüsteten Aktionsplan hat das Gremium nach einem Jahr veröffentlicht [18]. Es fordert darin etwa niedrigere Strompreise und einen Ausbau der Erneuerbaren für grünen H2, baut übergangsweise aber auch auf blauen und türkisen. Ferner besteht mittlerweile ein Forschungsnetzwerk Wasserstoff mit rund 1000 Mitgliedern aus Wirtschaft und Wissenschaft.

Gedanken macht sich die Exekutive zudem zum Speichern und Übertragen von H2. "Deutschland verfügt mit seinem weit verzweigten Erdgasnetz und den angeschlossenen Gasspeichern über eine gut ausgebaute Infrastruktur für Gase", hält sie dazu fest. Um die Potenziale von Wasserstoff optimal nutzen zu können, "werden wir unsere Transport- und Verteilinfrastruktur weiterentwickeln und weiterhin für Sicherheit in der Anwendung sorgen". Dazu gehörten auch der "Aus- und Zubau von dezidierten Wasserstoffnetzen".

Der regulatorische Rahmen und die technischen Gegebenheiten sowie Anpassungsbedarf an den bestehenden Leitungen sollen abfragt werden. Man werde etwa vorhandene Fernleitungen für Erdgas, die nicht länger für den ursprünglichen Zweck benötigt werden, "auf ihre Eignung für die Weiterentwicklung zu reinen Wasserstoffinfrastrukturen" prüfen, heißt es. Auch Möglichkeiten der Sicherstellung der Wasserstoffverträglichkeit vorhandener oder modernisierter Gasinfrastrukturen sollen ausgeleuchtet werden.

Als erster Schritt für den in der Strategie 25-mal geforderten Markthochlauf von Wasserstofftechnologien ist laut der Regierung "eine starke und nachhaltige inländische Wasserstoffproduktion und Wasserstoffverwendung – ein "Heimatmarkt" – unverzichtbar. Ein solcher schaffe auch eine wichtige Signalwirkung fürs Ausland.

"Die für die Energiewende voraussichtlich benötigten großen Mengen an Wasserstoff werden aus heutiger Sicht nicht nur in Deutschland produziert werden können", geht aus dem Papier aber auch hervor. Dazu reichten die erneuerbaren Erzeugungskapazitäten nicht aus. Die Regierung nimmt daher an, dass "Deutschland auch in Zukunft ein großer Energieimporteur bleiben" müsse. Deshalb will sie unter dem Motto "H2Global" Partnerschaften rund um das Thema Wasserstoff aufbauen und intensivieren.

Bundeswirtschaftsminister Altmaier unterzeichnet gemeinsame Absichtserklärung zur Deutsch-Saudischen Wasserstoffzusammenarbeit mit Abdulaziz bin Salman Al Saud, Energieminister Saudi-Arabiens

(Bild: BMWI, Andreas Mertens [19])

Als eine Option nannte sie den inzwischen unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Dezember 2020 verwirklichten Start eines neuen "Wichtigen Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse" alias "Important Project of Common European Interest" [20] (IPCEI) für den Bereich Wasserstofftechnologien und -systeme als Verbundinitiative mit anderen Mitgliedstaaten. Aber auch mit weiter entfernten Ländern vor allem im Süden soll die Bundesrepublik kooperieren, um den Bedarf zu decken. Gerade in Entwicklungsgebieten sei dabei aber darauf zu achten, "dass der Export von Wasserstoff nicht zu Lasten der derzeit häufig noch unzureichenden Energieversorgung in den betreffenden Exportländern geht und hierdurch Investitionsanreize für zusätzliche fossile Energiequellen vor Ort entstehen".

Noch im Juni 2020 schmiedete Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) eine "Allianz" mit Marokko. Die Pläne für den Bau eines davon erfassten ersten Hybridkraftwerks nebst Meerwasserentsalzungsanlage und 100-MW-Elektrolyseur schienen zunächst gut voranzukommen. Die Vorarbeiten für das Referenzwerk liege im Zeitplan, antwortete die Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion noch im März. Doch wie fragil solche Partnerschaften sein können, zeigt das Beispiel auch. Derzeit herrscht eine diplomatische Eiszeit zwischen Rabat und Berlin, nachdem das Auswärtige Amt den Schritt der US-Regierung, Marokkos Souveränität über das umstrittene Gebiet der Westsahara anzuerkennen, kritisiert hatte. Der FDP-Bundestagsfraktion erklärte das Außenministerium mittlerweile, dass die Kooperation zwar "in beiderseitigem Interesse bleibe", aufgrund der aktuellen Entwicklung aber auf dem Prüfstand stehe. Mittel würden nur ausgezahlt, "wenn der Partner seinen vertraglichen Verpflichtungen nachkommt".

Stefan Liebing, Vorsitzender des Afrika-Vereins der deutschen Wirtschaft, glaubt nicht, dass sich das Klima zwischen beiden Ländern kurzfristig bessert. Dagegen gebe es in anderen afrikanischen Ländern Fortschritte bei Wasserstoffprojekten, an denen deutsche Unternehmen beteiligt seien. Gegenüber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" erklärte der Afrikakenner, dass dabei auf kosteneffiziente Differenzverträge statt klassische Kredite gesetzt werde.

Am Rande des G7-Gipfels im britischen Cornwall gaben Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der australische Premierminister Scott Morrison derweil Mitte Juni den Abschluss einer "deutsch-australischen Wasserstoff-Vereinbarung" bekannt. Damit verknüpft sei "ein nachhaltiges Bekenntnis zu einer verstärkten Zusammenarbeit in den Bereichen technologischer Innovation, Forschung und Entwicklung sowie der Einführung von Technologien, um eine globale Wasserstoffindustrie aufzubauen".

Peter Altmaier spricht mit dem australischen Handelsminister Tehan über die Perspektiven der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen

(Bild: BMWI, Andreas Mertens [21])

Man werde in diesem Rahmen etwa mit "Hydrogen Hubs" die Produktion von Wasserstoff im industriellen Maßstab in Australien unter Einsatz deutscher Technologie beflügeln, kündigte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) dazu an. Als weiteren "großen Vorteil der Partnerschaft" machte seine Kollegin im Forschungsressort, Anja Karliczek (CDU), aus, dass Australien unter dem Motto "Shipping the sunshine" quasi "verpackten Sonnenschein" exportieren und sich eine "neue, klimafreundliche Perspektive" geben könne. Für die Kooperation habe sie über einen Zeitraum von drei Jahren bis zu 50 Millionen Euro eingeplant. Dazu hieß es aus dem BMWi, dass Canberra bereit sei, eine Auktion mit etwa ebenso viel Geld zu unterstützen, bei der in Australien produzierter H2 nach Deutschland geliefert werden solle. Dass die Entfernungen für solche Transporte weltweit kaum größer und so wenig klimafreundlich sein dürften, schneidet die Regierung nicht an.

Die erwähnten knapp 40 Vorschläge für weitere Maßnahmen in der NWS sind sehr allgemein gehalten. Die Rede ist hier davon, dass die Grundlagen für einen funktionierenden Heimatmarkt in einer ersten Phase bis 2023 angestoßen werden sollten. Parallel "werden wegbereitende Themen wie Forschung und Entwicklung sowie internationale Fragestellungen" forciert.

Von 2024 an werde der hiesige Markt gefestigt "und die europäische sowie internationale Dimension von Wasserstoff gestaltet und für die deutsche Wirtschaft genutzt". Eine "zeitnahe und ambitionierte Umsetzung der EU-Erneuerbare-Energien-Richtlinie" sollte eigentlich noch 2020 den Einsatz von grünem Wasserstoff bei der Kraftstoffherstellung und als Alternative zu Benzin und Diesel verankern. Dieser Schritt lässt aber weiter auf sich warten.

Ferner will sich die Regierung etwa für die "internationale Harmonisierung von Standards bezüglich Mobilitätsanwendungen für Wasserstoff- und Brennstoffzellensysteme" starkmachen. Dies soll Fragen von Betankung, Wasserstoff-Qualität, Eichung, Wasserstoff-Kfz Typengenehmigung und der Zulassung von Schiffen einschließen.

Monatelang tat sich nach dem Beschluss der H2-Agenda trotz halbwegs konkreter Arbeitsaufträge nicht viel. Am schnellsten nahm der Wasserstoffrat seine Tätigkeit auf, die Bundesregierung übte sich derweil allenfalls im Klein-Klein. Größere gesetzgeberische Schritte, um den Rahmen mit Leben zu füllen, folgten zunächst nicht. Erst im Mai – kurz vor dem ersten Geburtstag der NWS – setzte die Exekutive eine neue Markierung. Die Bundesministerien für Wirtschaft und Verkehr teilten mit, 62 Wasserstoff-Großprojekte aus über 230 eingereichten Vorschlägen ausgewählt zu haben [22], die im Rahmen des entsprechenden europäischen IPCEI staatlich gefördert werden sollen.

Insgesamt 8 Milliarden geben Bund und Länder dafür frei, der größte Anteil stammt mit rund 4,4 Milliarden Euro aus dem BMWi. 1,4 Milliarden Euro schießt das Verkehrsressort zu, der Rest stammt von den Ländern. Insgesamt sollen so Investitionen in Höhe von 33 Milliarden Euro ausgelöst werden, davon über 20 Milliarden Euro von privaten Investoren. Altmaier versicherte: "Wir wollen bei Wasserstofftechnologien die Nummer 1 in der Welt werden."

Im BMWi-Bereich sind 50 der Skizzen angesiedelt, die den Zuschlag erhielten. Errichtet werden sollen damit Erzeugungsanlagen, die zusammen über 2 GW Elektrolyseleistung für die Produktion von grünen Wasserstoff umfassen. Das entspricht 40 Prozent des Ziels für 2030 aus der NWS. Zudem sollen Wasserstoffleitungen mit einer Länge von rund 1700 km entstehen. Mit ArcelorMittal, Stahl Holding Saar, Salzgitter Stahl und Thyssenkrupp Steel sind alle in Deutschland tätigen Stahlerzeuger beteiligt. Aus der Chemieindustrie will etwa BASF am Standort Ludwigshafen CO₂-frei Wasserstoff herstellen und unter anderem für synthetische Kraftstoffe nutzbar machen.

Das Verkehrsministerium fördert 12 Vorhaben. Sie betreffen die Entwicklung und Herstellung von Brennstoffzellen-Systemen und Fahrzeugen etwa bei Daimler Truck in Wörth. Außerdem soll etwa der Aufbau einer "bundesweiten und grenzüberschreitend vernetzten Wasserstoff-Betankungsinfrastruktur" bezuschusst werden.

Anfang Juni gab es laut dem Verzeichnis h2.live in Deutschland 91 Wasserstoff-Tankstellen, die bereits eröffnet haben. Anfang 2020 waren es mit 90 fast genauso viele. Zwei weitere sind nun bereit für die Inbetriebnahme und befinden sich zurzeit im Probelauf. Sechs sind in der Ausführungs-, fünf in der Genehmigungsphase. Drei weitere sind in Planung.

Die meisten Anlagen werden von H2 Mobility und ihren Gesellschaftern wie Daimler, Air Liquide, Linde sowie Tankstellenbetreibern unterhalten. Adressiert werden mit dem Förderprogramm ferner in einem Hamburger Verbundprojekt die Luftfahrt und der maritime Bereich, das von Brennstoffzellen-Fahrzeugen die Hafenlogistik über H2-Schubboote im Hafen bis zu H2-Fahrzeugen für die Logistik bei Airbus reicht. In der Stadt an der Elbe soll parallel ein H2-Netz mit mindestens 60 Kilometer Länge entstehen. Am Standort des seit Januar abgeschalteten Kohlekraftwerks Moorburg ist eine Elektrolyseanlage mit mindestens 100 MW vorgesehen.

Das Verkehrsressort informierte zudem jüngst über erste Ergebnisse des Wettbewerbs zur Standortwahl eines Technologie- und Innovationszentrums "Wasserstofftechnologie für Mobilitätsanwendungen" (ITZ). Es soll gerade kleineren und mittelständischen Unternehmen "die benötigte Entwicklungsumgebung bieten, um sich auf dem internationalen Markt zu positionieren". Aus 15 Bewerbern haben das Ministerium die Initiativen für ein Technologie-Anwenderzentrum Wasserstoff (WTAZ) im bayerischen Pfeffenhausen mit Schwerpunkt Flüssigwasserstoff, für ein Hydrogen and Mobility Innovation Center (HIC) in Chemnitz sowie für ein Technologie- und Innovationszentrums Wasserstofftechnologien (TIW) in Duisburg am meisten überzeugt. Die Bewerbungen von Bremerhaven, Hamburg und Stade sollen mit Fokus auf die Luftfahrt und Schifffahrt noch einmal genauer untersucht werden.

Das Forschungsministerium und das BMWi gaben Anfang Juni zudem den Startschuss für einen "H2-Kompass". Er soll die Basis für einen Wasserstoff-Fahrplan geben. Ziel ist es, in einem breit angelegten Dialogprozess Daten und Fakten zu strukturieren und zu bündeln, um Fortschritte bei Wasserstoffinnovationen aufzuzeigen. Gleichzeitig soll sichtbar werden, wo noch Handlungsbedarf besteht. Die beiden Ressorts fördern das Projekt, das eine Laufzeit von zwei Jahren hat und von der Akademie der Technikwissenschaften Acatech sowie der Gesellschaft für Chemische Technik und Biotechnologie Dechema durchgeführt wird, mit 4,2 Millionen Euro.

Wie gut ist die Strategie nach einem Jahr gealtert, hat sie überhaupt die Weichen richtig gestellt und was halten die Opposition sowie Verbände davon?

Um es vorwegzunehmen, die größten Streitpunkte sind die Farbvarianten des Wasserstoffs, der genutzt werden soll, die Ausbauziele für die Erneuerbaren zugunsten von grünem H2 und der vorgesehene Einsatz auch im Pkw-Verkehr sowie im Wärmesektor. Vor allem hier gehen die Risse quer durch die Parteien. Aber auch die Ansichten aus der Industrie sowie von Umwelt- und Klimaschutzorganisationen prallen aufeinander. Dazu gibt es generell kritische Stimmen, die vor einer Blase warnen.

Die Wirtschaftswoche etwa monierte jüngst in einer Titelstory über die "Wasserstoff-Illusion", dass die Politik Milliarden Euro in eine vermeintliche Wundertechnologie versenke. Für industrielle Großanlagen mache das Sinn, doch die Affäre um den "Wunder-Lkw Nikola" [23] habe bereits deutlich gemacht, dass es im Straßenverkehr schwer werde. Der "Traum vom wasserstoffgetriebenen Teslajäger auf vier Rädern" made in Germany scheine ohnehin ausgeträumt.

"Die Bundesregierung hat es verpasst, mit einer klaren Priorisierung die Versorgung kritischer Sektoren abzusichern und riskiert eine Verschwendung des kostbaren Energieträgers in zahlungsstarken Bereichen wie dem Individualverkehr", rügt Ingrid Nestle, Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion für Energiewirtschaft. "Wir Grüne wollen hier die Förderung auf die Sektoren Industrie, Energiewirtschaft und Schwerlastverkehr fokussieren. Zusätzlich fordern wir, Ausbaupfade von jährlich 12 GW bei Solarenergie und 5 bis 6 GW für Wind an Land festzulegen in Verbindung mit einer deutlichen Steigerung ab Mitte des Jahrzehnts und einem ambitionierten Ausbauziel für 2030." Zusätzlich nötig sei eine Vorgabe für den Ausbau von 35 GW Wind auf See bis 2035, verlangt die Wirtschaftsingenieurin. Dabei müsse die "ökologische Tragfähigkeit der Meere in der Fortschreibung der marinen Raumordnung" aber gewahrt bleiben. "Hier beißt sich das Versäumnis der Bundesregierung, eine realistische Strombedarfsanalyse für ein klimaneutrales 2050, geschweige denn 2045, aufzustellen." Grundlegende Fehler der NWS würden jetzt durch die neuen Klimaziele [24] noch verschärft, wonach Deutschland und die EU bis 2045 – und nicht erst fünf Jahre später – klimaneutral werden sollen.

Ferner verlaufe der nationale Markthochlauf für Elektrolyseure zu langsam, bedauert Nestle. Den Akteuren fehle die benötigte Investitionssicherheit. Die Schwierigkeiten der Regierung, die Bremse zu lösen, mache sich auch "bei der schleppenden Einigung zum Energiewirtschaftsgesetz" bemerkbar. Mit der Reform soll die leitungsgebundene Versorgung der Allgemeinheit mit Strom und Gas stärker auf erneuerbaren Energien beruhen sowie möglichst sicher, preisgünstig, verbraucherfreundlich, effizient und umweltverträglich sein. Die Grünen seien für ein "innovationsfreundliches Design des Strommarktes, konkrete Förderungen, garantierten Markthochlauf wenn nötig über Ausschreibungen sowie den schnellen Einstieg in ein Wasserstoffnetz", berichtet die Fraktionsexpertin.

Grüner Wasserstoff werde bald "ein unverzichtbarer Baustein der Energieversorgung sein". Er sei kein Allheilmittel, aber dort ein wichtiger Baustein, "wo eine Elektrifizierung nicht möglich oder sinnvoll ist". Dabei ist für Nestle klar, "dass wir den Gasbedarf von heute von den Mengen her nicht eins zu eins in die Wasserstoffwelt von Morgen transformieren können".

Auch Lorenz Gösta Beutin, klima- und energiepolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion "Die Linke", teilt das Bild Scheuers von H2 als Tafelwasser nicht. Das Element sollte ihm zufolge "sorgsam eingesetzt und nicht in allerlei Anwendungen, für die es bessere Lösungen gibt, verschwendet werden". Für den Pkw-Antrieb und Heizungen gebe es bessere Optionen. E-Fuels müsse "ein klare Absage" erteilt werden. Mit Hilfe von grünem Wasserstoff könnten aber Kohle und Erdgas dort ersetzt werden, wo der direkte Einsatz von Ökostrom nicht möglich ist. Hier sieht der Linke einen der Knackpunkte der NWS: "Der geplante Zubau an erneuerbaren Energien wird nicht eingehalten und ist viel zu gering." Nötig sei ein "Boom im Ausbau".

Auch die Importstrategie der Bundesregierung für H2 gehe nicht auf: "Die Herstellung von Wasserstoff über Elektrolyse macht erst bei mindestens 70 Prozent Ökostrom im Netz Sinn, denn sonst steigt die CO2-Belastung. Damit ist auch klar, dass eine Wasserstoff-Erzeugung im globalen Süden für Europa dem Klimaschutz nicht dient. Denn dort liegen die Ökostromquoten weit unter denen in Deutschland, meist unter zehn Prozent."

Insgesamt hält Beutin die Strategie für "ein überdimensioniertes Luftschloss". Sie lenke davon ab, "dass wir eine echte Verkehrs- und Wärmewende benötigen, die den Bedarf an Energie deutlich verringert". Die Linke halte zudem nichts von der Beimischung von Wasserstoff in die Erdgasnetze. Hier bestehe die Gefahr, dass die Kosten über Netzentgelte den Verbrauchern zugeschoben würden. Die Infrastruktur müsse die Industrie bezahlen.

Die konkrete Umsetzung der NWS lasse noch immer auf sich warten, kritisiert Martin Neumann, Sprecher für Energiepolitik der FDP-Fraktion. Trotz der Auswahl erster Förderprojekte sei ein Gesamtplan der Regierung nicht erkennbar: "Die Befreiung grünen Wasserstoffs von der EEG-Umlage ist unter anderem immer noch nicht rechtssicher geklärt und auch der Ausbau der Infrastruktur hinkt hinterher." Es fehle ein ganzheitliches Konzept für das künftige Energiesystem sowie eine integrierte Netzplanung für Strom, Gas und Wasserstoff. Deutschland habe so im internationalen Wettbewerb viel Zeit verloren.

"Grundsätzlich stimmen wir der Auffassung der Bundesregierung zu, dass Wasserstoff als Speichertechnologie für Wind- und Sonnenenergie angesichts einer immer volatileren Stromerzeugung einen wichtigen Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten kann", sagt der Liberale aber auch. "Dabei wollen wir keinerlei Anwendungsbereiche von vornherein ausschließen und Wasserstoff überall dort nutzen, wo Effizienz auf Potenzial trifft. Darüber hinaus müssen wir mittelfristig den Wirkungsgrad der Elektrolyse erhöhen und diese dadurch wirtschaftlicher machen."

Anders als Grüne und Linke erachtet Neumann die "von Beginn an einseitige Ausrichtung auf grünen Wasserstoff" als falsch, da sie "Deutschland als Industrie- und Wirtschaftsstandort" nicht gerecht werde: "Erst wenn eine belastbare Infrastruktur aufgebaut und entsprechende Mengen grünen Wasserstoffs zur Verfügung stehen, können wir auf blauen oder türkisfarbenen Wasserstoff verzichten." Bis dahin werde die Bundesrepublik angesichts des gewaltigen Bedarfs an H2 in der Industrie bei Gebäuden oder im Verkehr "alle klimaneutralen Herstellungsverfahren" berücksichtigen müssen.

"Die Bundesregierung hat zwar die Weichen richtiggestellt, aber den Zug noch nicht losgeschickt", gibt das Berliner Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität (IKEM) zu bedenken: Sie habe sich in der NWS zu grünem Wasserstoff bekannt, sehe aber "auch blauen und türkisen Wasserstoff vor". Die Berücksichtigung dieser Farbformen sei für den schnellen Hochlauf einer Wasserstoffwirtschaft nötig. "Doch was fehlt ist die regulatorische Umsetzung dieser Bekenntnisse und somit eine zentrale Voraussetzung für Investitionsentscheidungen."

"Damit grüner Wasserstoff nicht eine durch Regulierung künstlich knapp gehaltene Ressource bleibt, muss die Politik eine Unterquote für grünen Wasserstoff schaffen und die Ausbauziele für Elektrolyseure und erneuerbare Energien massiv erhöhen", umreißt das IKEM den größten Handlungsbedarf. Jeder Euro, der in klimafreundliche Technologien investiert werde, "ist richtig investiert und dringend notwendig". Die Exekutive müsse dafür aber auch verstärkte Kooperationen mit europäischen Ländern wie Griechenland und Spanien anstreben: "Dort gibt es dank der vielen Sonnenstunden ein großes Potenzial für die Produktion von grünem Wasserstoff."

Für eine klimaneutrale Stromversorgung müsse "ein Schwerpunkt auf die schnelle Entwicklung einer Wasserstoffwirtschaft gelegt werden", verlangt auch der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm. "Jetzt müssen wir gerade im Wasserstoffbereich mutiger, größer und vor allem globaler denken." Damit der Hochlauf gelinge, sollten die Kosten auf der Erzeugerseite etwa durch "konsequente Industrialisierung und Hochskalierung der Elektrolysetechnologien" sowie die "Entlastung des Strompreises" gesenkt werden.

"Das Spektrum für die Nutzung von Wasserstoff ist vielfältig", weiß das frühere Siemens-Vorstandsmitglied. "Deshalb setzt sich die deutsche Industrie für eine breite Anwendungsoffenheit ein und ist gegen staatliche Vorgaben." Allein die Grundstoffindustrie dürfte ihm zufolge 2030 schon 120 TWh Wasserstoff benötigen. "Dafür müssen wir den Zugang zu Wasserstoff möglichst diversifizieren." Für die Anwendung spiele die Farbe "keine Rolle". H2 dürfe – bis hinreichend grüner Wasserstoff verfügbar sei – "notfalls auch blau oder türkis, also aus Erdgas synthetisiert sein".

Schon der direkte Einsatz von Erdgas senke etwa bei der Reduktion von Eisenerz den CO2-Ausstoß um zwei Drittel, verteidigt Russwurm den BDI-Ansatz. "Nur wenn wir das akzeptieren, dürfen wir Investitionsentscheidungen erwarten." Es vertrete ja auch Niemand die Idee, "Elektromobilität erst dann zu starten, wenn der Strom-Mix zu 100 Prozent aus Renewables kommt". In Deutschland allein würden bei allen ambitionierten Ausbauplänen nicht genügend Kapazitäten für erneuerbare Energien zur Verfügung stehen, um den inländischen Bedarf an grünem Wasserstoff zu decken.

Zuvor hatte der BDI bereits direkt nach dem Beschluss der NWS als deren "größtes Versäumnis" die "verpasste Chance" ausgemacht, das Potenzial des Straßenverkehrs mit seinen sehr hohen Abgaben und Steuern für den Markthochlauf von Wasserstoff und Nachfolgeprodukte zu nutzen. Zwar würden H2-Anwendungen in keinem Verkehrsbereich explizit ausgeschlossen. Es fehle aber an konkreten regulatorischen Instrumenten zur Förderung von synthetischen Kraftstoffen sowie auch der Brennstoffzellenmobilität" bei Pkws.

"Ein genereller Ausschluss von Anwendungsfeldern behindert den Hochlauf eines Wasserstoffmarktes", glaubt ähnlich der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). Für ihn steht im Vordergrund, H2 auch im Wärmemarkt einzusetzen und so dort Treibhausgasemissionen zu senken und Klimaschutz bezahlbar zu machen. Eine vorausschauende Energiepolitik müsse Wasserstoff zu einem "breit verfügbaren Massenprodukt" machen. Angesichts der höheren Klimaziele müssten aber auch die Kapazitätsziele für Elektrolyseure angehoben und die Erneuerbaren stärker ausgebaut werden.

Die Mitglieder der "Klima-Allianz" sehen das ganz anders: Der Fokus der NWS auf "erneuerbarer Erzeugung" sei richtig, der "Einsatz in Pkw und Heizung falsch", macht die Deutsche Umwelthilfe klar. Wasserstoff sei gut für einen nachhaltigen Einsatz im Luftverkehr, jedoch "keine Lösung im Straßenverkehr" [25], betont auch der ökologisch ausgerichtete Verkehrsclub Deutschland (VCD).

Die Strategie diene nicht dazu, die Republik "schnellstmöglich in eine klimaneutrale Energieversorgung zu führen", urteilt der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). Aufgrund des hohen Stromverbrauchs bei seiner Herstellung könne Wasserstoff immer nur die zweit- oder drittbeste Lösung nach der direkten Stromnutzung sein. Elektrofahrzeuge verbrauchten weniger als das 3,5- bis 5-fache an Strom für dieselbe Wegstrecke als Autos mit E-Fuels. Synthetische Kraftstoffe seien daher "ein klimapolitischer Irrweg". Blauer Wasserstoff sei zudem – jenseits seiner Gefahren für die Umwelt – "teuer und ökonomisch nicht konkurrenzfähig", heißt es beim BUND.

Der Ökoenergieanbieter Greenpeace Energy verweist auf eine von ihm in Auftrag gegebene Studie aus 2020, mit der die Klimaschädlichkeit von blauem Wasserstoff und weitere Risiken durch diese Technik belegt seien [26]. "Unser Strom ist wahrscheinlich erst um das Jahr 2040 herum ausreichend grün, damit der Wasserstoffeinsatz einen Klimavorteil bringt", rechnet Anke Herold vor, Geschäftsführerin am Öko-Institut. "Wenn Kohlestrom zur Wasserstofferzeugung genutzt wird, dann ist Wasserstoff wesentlich klimaschädlicher als heutige fossile Brennstoffe. Daher funktioniert die Wasserstoffstrategie nur zusammen mit einer verstärkten Ausbaustrategie für erneuerbare Energien."

Nötig seien Planungsverbesserungen für die Windkraft an Land, unverkennbar höhere Ziele für Offshore-Windenergie und eine deutlich stärkere Ausweitung der Photovoltaik.

Die Stiftung Klimaneutralität appelliert an die Regierung, die NWS zeitnah weiterzuentwickeln. In einer Studie mit einem Ausblick bis 2045 prognostiziert sie schon für 2030 einen Bedarf von gut 60 TWh Wasserstoff, um das Ziel von 65 Prozent Treibhausgasminderung zu erreichen. Bis 2045 steige der Bedarf auf über 260 TWh. Nur etwa ein Drittel dieser Menge könne aus erneuerbaren Energien im Inland erzeugt werden. Fördergelder müssten angesichts der Knappheit des Gutes daher klar priorisiert, Gebäudeheizungen und Pkws ausgeschlossen werden.

Gemeinsam mit den Denkfabriken Agora Energiewende und Verkehrswende schlug die Stiftung jüngst ein Maßnahmenbündel vor, mit dem ein schneller Ausbau der Erneuerbaren gelingen und ihr Anteil am Stromverbrauch bis 2030 auf mindestens 70 Prozent steigen soll.

Demnach könnten für Windenergieanlagen zusätzliche Flächen verfügbar gemacht, die Genehmigungsverfahren gestrafft und der Zielkonflikt mit den Belangen des Artenschutzes durch Schutzabstände gegen Vogelschlag konstruktiv aufgelöst werden. Ferner soll der Bau von Offshore-Anlagen forciert und die Erzeugung von Solarenergie in Freiflächenanlagen gestärkt werden. Für Neubauten und Dachsanierungen sollen Solarpanels zum verbindlichen Standard werden.

Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) hat jüngst ein 100-seitiges Gutachten [27] zu Wasserstoff im Klimaschutz veröffentlicht und fordert "Klasse statt Masse" und "dunkelgrünen" Wasserstoff [28]. H2 könne eine wichtige Rolle für den Klimaschutz spielen, wird aber absehbar ein knapper und kostbarer Energieträger bleiben. Der SRU empfiehlt, alle Anstrengungen auf den Markthochlauf von grünem Wasserstoff aus Wind und Sonne zu konzentrieren. Auch übergangsweise sollte die Politik nicht auf fossil erzeugten Wasserstoff setzen.

Nach Auffassung des SRU eignet sich blauer Wasserstoff nicht als sogenannte Übergangstechnologie, da die dafür notwendige neue Infrastruktur die langfristige Transformation zu erneuerbaren Energien verzögern würde. Die staatliche Förderung von grünem Wasserstoff und Folgeprodukten sollte auf die Verbrauchssektoren fokussiert werden, in denen der Einsatz langfristig erforderlich ist. Dazu gehören vor allem die chemische Industrie, die Stahlindustrie sowie der internationale Schiffs- und Flugverkehr. Für Gebäudeheizungen und im Pkw-Verkehr ist die Nutzung von Wasserstoff hingegen ineffizient und deutlich teurer als eine direkte Elektrifizierung mittels Wärmepumpen und batterieelektrischen Fahrzeugen.

Die Infrastrukturen von Wasserstoff, Erdgas und Strom sollten integriert geplant werden. Grundlage dafür müssen die Klimaziele sein. In der nächsten Legislaturperiode sollten Ausstiegspfade für Erdgas und Erdöl festgeschrieben werden, um Fehlinvestitionen in fossile Technologien zu vermeiden und die notwendige Transformation in allen Sektoren einzuleiten.

Das EU-Parlament forderte derweil in seiner Position zum Entwurf der EU-Kommission für eine europäische Wasserstoffstrategie im Mai den schrittweisen Ausstieg aus fossilem H2 und zwar "so schnell wie möglich". Nur grüner Wasserstoff trage auf lange Sicht nachhaltig zur Erreichung der Klimaneutralität bei. Sollte die Initiative in diesem Sinne verdeutlicht werden, müsste mittelfristig auch die Bundesregierung nachsteuern.

(kbe [34])


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[9] https://www.bundesnetzagentur.de/SharedDocs/Mediathek/Vernetzt/VERNETZT2021_01.pdf?__blob=publicationFile&v=3
[10] https://www.heise.de/news/Wende-oder-nutzlos-Bundestag-beschliesst-Klimaschutzgesetz-4587160.html
[11] https://www.heise.de/news/Klimaerwaermung-Globale-Methan-Emissionen-auf-Rekordhoch-4864082.html
[12] https://www.heise.de/news/Zukunftspaket-50-Milliarden-fuer-5G-KI-Wasserstoff-Quantencomputer-Co-4774564.html
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[16] https://www.heise.de/news/Wasserstoff-wird-Benzin-Siemens-braut-Treibstoff-aus-Wind-und-Wasser-5068867.html
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[26] https://gp-e.de/blauerwasserstoff-studie
[27] https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/04_Stellungnahmen/2020_2024/2021_06_stellungnahme_wasserstoff_im_klimaschutz.pdf?__blob=publicationFile&v=4
[28] https://www.heise.de/news/Umweltrat-tritt-fuer-dunkelgruenen-Wasserstoff-ein-6115662.html
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