Neue Handprothese ist besser kontrollierbar und lässt ihre Trägerin auch fühlen​

Die Fallstudie einer Schwedin macht Mut: Mit einer neuer Verankerung und verbesserter Implantation verminderten die Entwickler auch Phantomschmerzen deutlich.​

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 3 Kommentare lesen

Prothesenträgerin Karin inmitten weiterer bionischer Prothesen.

(Bild: Ortiz-Catalan et al., Sci. Rob., 2023)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler
Inhaltsverzeichnis

Vor 20 Jahren veränderte ein Unfall auf ihrem Bauernhof Karins Leben grundlegend. Die Schwedin verlor ihre rechte Hand und einen Teil des Unterarms. Nach der Amputation unterhalb des Ellenbogens litt sie lange unter qualvollen Nerven- und Phantomschmerzen, also Schmerzempfindungen in dem Gliedmaß, das nicht mehr da war. "Es fühlte sich an, als steckte meine Hand ständig in einem Fleischwolf. Das erzeugte hohe Stresslevel, ich musste hoch dosierte Schmerzmittel einnehmen", sagt Karin. Als wäre das nicht schlimm genug, konnte sie auch keine Prothese dauerhaft tragen. Sie fand sie unzuverlässig und extrem unbequem.

Vor etwas mehr als drei Jahren veränderte sich Karins Leben erneut. Diesmal war der Grund ein freudiger: Sie erhielt ein neuartiges Prothesensystem, das sie den ganzen Tag tragen konnte. "Ich habe eine bessere Kontrolle über meine Prothese, aber vor allem sind meine Schmerzen weniger geworden. Heute brauche ich viel weniger Medikamente", sagt Karin. All diese Vorteile verschaffte ihr ein internationales Entwicklerteam, das aus Schweden, Italien, den USA und Australien kommt, durch mehrere Neuerungen. Es berichtet über Karins Fallstudie im Fachjournal "Science Robotics".

Viele Prothesenträger klagen über ähnliche Probleme wie die Schwedin. Oft reibt der becherförmige Verbindungsschaft an der Haut des Arm- oder Beinstumpfes und kann den Stumpf auch schmerzhaft zusammendrücken. Zudem wünschen sich Träger oft verlässlicher steuerbare Prothesen, die ihnen nützliche Bewegungen erlauben.

"Es gibt viele beeindruckende Prothesen. Aber der Knackpunkt ist nicht, was sie können, sondern wie Patienten sie effektiv nutzen können. Die Frage ist daher: Wie kommen wir – auf intuitive und verlässliche Weise – an die Steuerinformationen, was die Träger also damit tun wollen? Die Verlässlichkeit ist entscheidend, sonst benutzen Patienten die Prothese einfach nicht", sagt Max Ortiz Catalán vom Bionics Institute im australischen Melbourne, der das Projekt leitet und auch das Zentrum für Bionik und Schmerzforschung im schwedischen Mölndal gegründet hat.

Erstens verband das neue System die Prothesen nicht nur mit Muskeln und Nerven in Karins betroffenem Arm, sondern für eine bessere Stabilität auch mit den Knochen. Statt eines Schaftes wurde je ein Titan-Verbindungsstift in Elle und Speiche implantiert, die etwa einen Zentimeter aus der Haut hervorragen. Daran lassen sich mithilfe passender Adapterstücke verschiedene Prothesen befestigen.

Diese Osseointegration, nach dem lateinischen Wort Os für Knochen, ist bei Arm- und Handprothesen recht neu.

Über die Stifte übte Karin während der Einheilung die ersten Bewegungen mit einem virtuellen Assistenzsystem. Dachte sie an eine Bewegung, führte eine Hand auf dem Bildschirm die resultierenden Bewegungen aus. Eine künstliche Intelligenz lernte, die Signale mit der Zeit immer präziser zu übersetzen, und tat das später auch direkt in den Prothesen.

Als Zweites integrierten die Entwickler sämtliche Elektronik in die Stifte und die Prothese, um keine Kabel durch die Haut führen zu müssen. Gleichzeitig lassen sich über die Stifte mehr Signale schicken als über drahtlose Muskelelektroden, etwa die IMES-Elektroden des isländischen Prothesenherstellers Össur. Das gilt für beide Richtungen, auch sensorische Signale aus der Prothese können durch die Stifte zurück zu den sensorischen Nerven gelangen.

Als Drittes entlockten die Wissenschaftler Karins Körper mehr und damit präzisere Steuersignale, als es bisherige Prothesen tun. Viele Modelle detektieren die – durch Nervensignale ausgelöste – elektrische Spannung der Restmuskeln. Weil Karin dafür nicht mehr genug Unterarmmuskeln besaß, zapften die Wissenschaftler auch gekappte Nerven dafür an. Um diese schwer abzuleitenden Signale zu verstärken, nähten Chirurgen kleine, aus dem Oberschenkel entnommene Muskeln um sie herum und leiteten aus diesen mit implantierten Elektroden die stärkeren Muskelsignale ab.

Last, but not least versahen die Chirurgen Karins sensorische Nervenstümpfe mit Manschettenelektroden, die elektrische Signale von Drucksensoren aus einer neu entwickelten Handprothese einspeisen können. "Unser integrierter chirurgischer und technischer Ansatz erklärt auch die Verringerung der Schmerzen, da Karin nun in etwa die gleichen neuronalen Ressourcen zur Steuerung der Prothese verwendet wie für ihre fehlende biologische Hand", sagt Ortiz Catalán.

Im ersten Jahr übte Karin mit zwei Prothesen, eine davon war die sehr einfache MyoHand Variplus Speed des deutschen Herstellers Otto Bock. Mit ihr verminderten sich die Phantomschmerzen im Alltag und bei der Arbeit deutlich und verschwanden nachts fast komplett. Auch die Intensität der Phantomschmerzen sank und die der Stumpfschmerzen ließ fast komplett nach. Diese Handprothese öffnet und schließt sich nur, und ähnelt Karins altem, ungeliebten Modell, erlaubte aber – ohne die Schmerzen – bessere Funktionsergebnisse.

Bionische Handprothesen (4 Bilder)

Die Schwedin Karin ist die erste Person mit einem neuartigen Prothesensystem, das sie den ganzen Tag tragen kann.
(Bild: Ortiz-Catalan et al., Sci. Rob., 2023 )

Die komplexere Mia Hand, die der italienischen Prothesenhersteller Prensilia neu entwickelt hat, erlaubte ihr zudem, alle fünf Finger einzeln zu bewegen, verschiedene Handgriffe auszuführen und sogar etwas Gefühl über die Kunstfinger zurückzubekommen. Das half ihr unter anderem, die Festigkeit von Objekten zu fühlen, etwa um die Grifffestigkeit an verschiedene Objekte anzupassen. Mit der Mia Hand kann sie selbst kleine, flache Gegenstände wie Münzen vom Tisch aufheben, ihren Koffer packen und selber den Reißverschluss zuziehen.

"Das ist eine schöne Arbeit: Die Kombination aus der Verankerung und den integrierten Elektroden macht es. Die Verankerung ist der große Nutzen, damit kriegt man auch die Kabel nach außen, ohne ein bandbreitenbegrenztes drahtloses Implantat zu brauchen", sagt Thomas Stieglitz, Direktor des Biomedizinischen Mikrotechnik Institutes für Mikrosystemtechnik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

"Dazu zeigt das Paper, dass die Prothese über Jahre funktioniert und nützlich ist. Die Verankerung, die Muskel-Interfaces für die Steuersignale und die Elektroden für das sensorische Feedback sind alle stabil." Wichtig sei zudem, wie stark die Schmerzindizes sinken, auch wenn es sich erst um eine Patientin handelt. "Was immer ich mache, ich kann es machen, weil der Schmerz nicht drüber ist", lobt Stieglitz.

Er hätte sich zwar noch weitere Details gewünscht, etwa darüber, ob die Patientin die Prothese als ihre eigene Hand empfindet. Dennoch könnten, analog zur Erfolgsgeschichte des Cochlea-Implantats, spätere Optimierungen der Signalverarbeitung das Nutzungserlebnis steigern. "Mit einem besseren Sprachprozessor konnten die Cochleaträger auf einmal besser hören, obwohl sie das gleiche Implantat hatten", sagt Stieglitz.

Inzwischen benutzt Karin die i-Limb-Handprothese von Össur, sagt Ortiz-Catalán. Diese biete keine sensorische Rückmeldung, wird aber vom schwedischen Gesundheitssystem erstattet. Als Nächstes will das Entwicklerteam die Prothesenkontrolle weiter verbessern und für ein reichhaltigeres sensorisches Feedback sorgen.

(vsz)