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ÖPNV: Fahre und teile

Gregor Honsel

Neue Ridesharing-Dienste könnten den öffentlichen Nahverkehr stärken. Doch uralte Gesetze machen ihnen das Leben schwer.

Die Zahlen sind ernüchternd: Rund eine Milliarde Kilometer zusätzlichen Autoverkehr haben private Taxidienste wie Uber und Lyft allein in New York in den letzten drei Jahren verursacht – ein Plus von sieben Prozent, wie der Verkehrsexperte Bruce Schaller ermittelt hat. Dabei werden solche Services gern als die Zukunft der Mobilität gefeiert. Wer sich jederzeit für kleines Geld ein Auto rufen kann, braucht kein eigenes mehr, so die Logik dahinter. Und wer kein eigenes Auto mehr hat, ist offener für andere Verkehrsmittel.

8/2017

Doch die Erfahrungen in New York – aus anderen Städten gibt es kaum belastbare Daten – legen eine andere Logik nahe: Je preiswerter und bequemer es ist, sich mit dem Auto direkt zum Ziel chauffieren zu lassen, desto geringer der Anreiz, Busse oder Bahnen zu benutzen. Und solange die Wagen jeweils nur mit einem einzigen Fahrgast besetzt sind, tragen sie wenig zur Eindämmung des Autoverkehrs bei. Sind die neuen Dienste also im Gegenteil der natürliche Feind einer Verkehrswende?

Eine neue Generation von Ridesharing-Diensten will nun den öffentlichen und privaten Verkehr enger miteinander verzahnen – zum Nutzen von Kunden, Städten und der Umwelt. "Günstig wie ein Bus, bequem wie eine Limousine", versprechen sie. Dazu bündelt ein Algorithmus die Fahrten von Kunden, die ein ähnliches Ziel haben. Die Mitfahrer müssen unter Umständen zwar einen gewissen Umweg in Kauf nehmen und etwas mehr bezahlen als für ein Busticket, aber immer noch deutlich weniger als für ein Taxi.

Gerade im ländlichen Raum oder in den Vorstädten, wo der ÖPNV eher schlecht als recht funktioniert, versprechen solche Dienste eine wichtige Mobilitätslücke zu schließen: Schlecht ausgelastete Strecken ließen sich beispielsweise kostengünstiger betreiben; zudem kann Ridesharing die Auslastung öffentlicher Verkehrsmittel erhöhen, indem es die "erste und letzte Meile" zwischen Station und Haustür überbrückt und so als Zubringer zu den Bus- und Bahnlinien dient. Unter dem Label "uberPOOL" oder "Lyft Line" bieten die beiden großen US-Pioniere solche Dienste in ihren Heimatländern bereits an.

Hierzulande hingegen blockiert das Personenbeförderungsgesetz (PBefG) von 1961 solche Ansätze. "Es sieht das Poolen in Taxis gar nicht vor", sagt Verkehrsforscher Andreas Knie vom Innovationszentrum InnoZ. "Dafür gibt es keinerlei gesetzeskonforme Lösung."

Das Berliner Start-up CleverShuttle hat es trotzdem geschafft, einen deutschen Ridesharing-Service zu etablieren. Derzeit ist es in Berlin, München und Leipzig mit insgesamt 36 Elektroautos oder Plug-in-Hybriden aktiv, vor allem in den Abend- und Nachtstunden. In diesem Jahr sollen noch Hamburg, Stuttgart, Frankfurt und Dresden hinzukommen. Bis Ende des Sommers, hofft Mitgründer und CEO Bruno Ginnuth, werden rund 65 Autos im Einsatz sein.

Doch die bürokratischen Beschränkungen waren immens. Für die Genehmigung muss CleverShuttle mit jeder einzelnen Stadt verhandeln. In Berlin war das 2014 gegründete Start-up zunächst abgeblitzt. Damals gab es gerade einen heftigen Rechtsstreit mit Uber. "Wir wurden mit Uber in einen Topf geworfen", sagt Ginnuth. "Das hat uns gar nicht gutgetan." Erst als der Dienst in München und Leipzig ins Rollen kam, klappte es auch mit Berlin.

Leicht ist der Betrieb aber nach wie vor nicht. Jede Vergrößerung der Flotte braucht eine Genehmigung. Zudem müssen die Wagen, wenn sie keinen direkten Folgeauftrag haben, nach jeder Fahrt zurück ins Depot. "Am Wochenende stört uns das nicht groß, weil es meist genug Anschlussaufträge gibt, aber innerhalb der Woche ist das ökonomisch und ökologisch schwachsinnig", sagt Ginnuth. "Aber was sollen wir machen? So ist das Gesetz, und wir halten uns dran."

Grinnuth würde zudem gern "massenweise Studenten beschäftigen". Aber auch hier steht das PBefG im Weg: Es schreibt unter anderem vor, dass Fahrer fundierte Ortskenntnisse nachweisen müssen. "Ich bin selbst Berliner und ziemlich viel rumgekommen", sagt Ginnuth. "Aber für den Ortskundenachweis müsste ich mich drei bis vier Monate intensiv vorbereiten." Deshalb sind viele der rund 80 Fahrer ehemalige Taxi-Chauffeure. Alle sind fest angestellt.

Trotz der bürokratischen Hürden kann das Start-up auf mittlerweile 170000 Beförderungen und über 500000 gefahrene Kilometer zurückblicken. So lassen sich erste Schlüsse ziehen: "Ridesharing funktioniert", sagt Ginnuth. "Das ist eine sehr wertvolle Erkenntnis, denn Kritiker haben immer wieder gesagt, die Wahrscheinlichkeit geteilter Fahrten sei viel zu klein." Derzeit sei etwa je dritte Fahrt mit mehreren Gästen besetzt, Tendenz steigend. Die Auslastung der Wagen betrage im Schnitt 40 Prozent, an Wochenenden bis zu 70 Prozent. Elf bis zwölf Minuten müssen Kunden in der Regel warten.

Strategischer Investor ist die Deutsche Bahn, die 2015 für eine Millionensumme 19 Prozent des Start-ups übernahm. Im nächsten Jahr, sagt Ginnuth, werde CleverShuttle voraussichtlich auch in Apps der Bahn wie dem DB Navigator auftauchen. Zudem spricht Ginnuth derzeit nach eigenen Angaben mit sieben bis acht großen Verkehrsverbünden, die selbst Ridesharing anbieten und dazu die IT-Infrastruktur von CleverShuttle nutzen wollen.

Genau auf diese Zielgruppe hat sich das Berliner Start-up door2door spezialisiert. Anders als CleverShuttle will es Ridesharing nicht in Eigenregie betreiben, sondern in erster Linie Verkehrsverbünden eine IT-Plattform zur Verfügung stellt. Über diese Plattform können die Betreiber dann Parameter wie die maximal erlaubten Umwege selbst einstellen. Lediglich in Berlin betreibt door2door unter dem Namen allygator einen eigenen Service mit 10 bis 30 Wagen, die nur am Freitagabend fahren – als Schaufenster und Experimentierfeld. Da er nicht gewinnorientiert arbeitet, kommt er ohne Genehmigung aus.

"Es ist ganz entscheidend, die existierenden Akteure vor Ort einzubinden", sagt Mitgründer und COO Tom Kirschbaum. "Wenn die Behörden sehen, dass man den ÖPNV nicht kannibalisiert, sind sie bereit, die Klauseln weit auszulegen." Den Anfang macht die 7500-Einwohner-Stadt Freyung im Bayerischen Wald. Ab September sollen dort acht Kleinbusse per App herbeigerufen werden können. Betreiber ist die Stadt selbst, die Aufträge an lokale Bus- oder Taxiunternehmen vergibt. "Hier ist es mittelfristig die Idee, auch den Landkreis einzubeziehen, zum Beispiel für den Weg in die Disco", sagt Kirschbaum. Damit will door2door beweisen, dass Ridesharing auch im dünn besiedelten Raum funktioniert. Laut Kirschbaum haben bereits 40 ländliche Regionen ihr Interesse angemeldet.

Im Herbst soll sich das Modell auch in einer Großstadt beweisen. Die Duisburger Verkehrsgesellschaft will mit fünf bis zehn Kleinbussen die Innenstadt inklusive Uni-Viertel bedienen. Die Testphase ist bis Ende 2019 angelegt, Pionier des Konzepts war Helsinki. Fahrgäste konnten dort 15 staatliche "Kutsuplus"-Minibusse per App anfordern, um sich von Tür zu Tür bringen zu lassen. Allerdings wurde der Pilotversuch 2016 nach drei Jahren wieder eingestellt. Es waren zu wenig Busse in einem zu großen Gebiet unterwegs, was zu langen Wartezeiten führte.

Wird es in Duisburg ähnliche Probleme geben? "Wir kennen das Projekt in Helsinki sehr gut und können eine Menge davon lernen", sagt Kirschbaum. "Es hat den Weg in die richtige Richtung gezeigt, aber nicht alles richtig gemacht." Dank der eigenen Erfahrungen mit allygator sei man in der Lage, das Verhältnis zwischen Flotte und Größe des Gebiets genau zu modellieren. Um die Wartezeiten kurz zu halten, sind während der Testphase zunächst sowohl das Gebiet als auch die Betriebszeiten begrenzt.

Die meisten solcher Ridesharing-Projekte laufen unter einer Experimentierklausel des PBefG, die auf drei bis vier Jahre befristete Versuchsprojekte erlaubt. Doch was ist danach? Kirschbaum ist zuversichtlich, dass sich die Regulierung bis zum Auslaufen der jetzigen Versuche lockern wird: "Ich gehe nicht davon aus, dass wir einen völlig liberalen Markt haben werden – aber ich bin fest davon überzeugt, dass der Gesetzgeber mehr Flexibilität erlauben wird."

Verkehrsforscher Knie ist da nicht so optimistisch: "Wir haben eine ganz große Verteidigungslobby, vor allem die Taxiverbände und der öffentliche Nahverkehr." Die Kommunen spielen dabei eine Doppelrolle: Sie sind oft Eigentümer ihrer Verkehrsbetriebe und gleichzeitig für die Genehmigung neuer Dienste verantwortlich. Entsprechend zögerlich reagieren sie oft. Knie: "Die Experimentierklausel findet im Prinzip nicht statt. Die Kommunen haben Angst, dass der Geist nicht mehr in die Flasche kommt, wenn sie ihn erst befreit haben."

Ob diese Angst berechtigt ist, lässt sich mangels Daten bisher nicht abschließend klären. Die Erkenntnisse aus New York dürften sich nur begrenzt auf andere Städte oder gar auf ländliche Gegenden übertragen lassen. Eine Studie der American Public Transit Association kommt aber zum Schluss: "Shared Modes ersetzen eher Pkw-Fahrten als Fahrten mit dem ÖPNV."

Das International Transport Forum (ITF) warnt allerdings: Flexible Sharing-Dienste können schlechte öffentliche Verkehrsangebote auf die Dauer nicht retten. Der Hamburger Verkehrsforscher Andreas Kossak sekundiert: "Ob die Nahverkehrswirtschaft davon profitiert oder eher kannibalisiert wird, hängt von der Positionierung der Angebote ab."

Noch komplizierter wird die Lage dadurch, dass immer mehr unterschiedliche Akteure in den Markt drängen. In Portugal hat laut Kirschbaum ein Mautbetreiber sein Interesse an der door2door-Software bekundet, ebenso wie Audi. Konzernmutter Volkswagen hat Anfang Juni die Plattform des finnischen Kutsuplus-Projekts übernommen.

Die neue Tochterfirma Moia will damit einen eigenen Ridesharing-Service aufziehen. Gemeinsam mit der Hamburger Hochbahn soll es 2018 mit 200 Elektro-Shuttles losgehen. Mitte Juli stieg die Daimler-Tochter EvoBus mit einer Minderheitsbeteiligung bei CleverShuttle ein. Konkurrent Ford hat 2016 in den USA den Ridesharing-Dienst Chariot gekauft. BMW ist Partner beim französischen Start-up Hupp, das Fahrten zum Arbeitsplatz bündelt. Auch das Taxigewerbe zieht nach: Der deutsche Taxi- und Mietwagenverband will im Herbst eine eigene App zum Ridesharing launchen.

Diese Vielfalt kann einen sinnvollen Wettstreit um die beste Lösung bedeuten. Um ihn zu befördern, empfiehlt das ITF den Kommunen, ihre Rolle zu überdenken: Sie sollen sich vom Betreiber und Regulierer zum Besteller wandeln, der Transportaufträge vergibt. Geschieht dies nach einheitlichen Maßgaben wie der durchschnittlichen Wartezeit, kristallisieren sich die besten Anbieter heraus. Als positives Beispiel nennt das ITF die IT-Plattform FlexDanmark. Mehrere dänische Verkehrsbetriebe haben sie gemeinsam geschaffen, um Angebot und Nachfrage nach Transportdienstleistungen zu bündeln.

Die Kommunen schreiben ihren Bedarf aus, und Taxi- und Busunternehmen bieten um den Zuschlag. Dadurch werden die vorhandenen Kapazitäten besser ausgenutzt, und die Preise sinken. 2015 konnte die Plattform knapp fünfeinhalb Millionen Fahrten vermitteln.

Mehr Regulierung ist für InnoZ-Forscher Andreas Knie jedenfalls keine Lösung: Das Personenbeförderungsgesetz  habe vor allem dazu beigetragen, Branchen wie das Taxigewerke "kaputtzuregulieren". Knie: "Alle unternehmerischen Elemente, mit denen man sich differenzieren kann, unterliegen der Kontrolle. Wer glaubt, dass die Regulierung ihn schützt, wird verlieren." (grh [10])


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