Ökowende: Es wirkt

Die Kosten der erneuerbaren Energien fallen drastisch, die CO2-Emissionen steigen nicht mehr, der ökologische Fußabdruck des Menschen wird kleiner – Anzeichen für den Beginn einer globalen Umweltwende.

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Von
  • Jan Oliver Löfken
  • Richard Martin
Inhaltsverzeichnis

Einsam ragt der gigantische Betonstumpf aus der staubigen Einöde nahe der Stadt Ouarzazate im Osten Marokkos. Noch dieses Jahr wird der Solarturm "Noor III" mit 242 Metern Höhe alle anderen Gebäude Afrikas übertrumpfen und Solarstrom mit einer Leistung von 150 Megawatt liefern. 7400 Heliostaten mit jeweils 180 Quadratmetern Spiegelfläche folgen dazu dem Lauf der Sonne und werfen deren Licht gen Turmspitze. Dank der konzentrierten Strahlen heizen sich im Turm zirkulierende flüssige Salze auf 540 Grad auf.

Die Mischung aus Kalium- und Natriumnitrat gibt ihre Hitze sogar noch nach Sonnenuntergang an Wasserdampf ab und lässt die Turbine eines Generator fast rund um die Uhr rotieren. "Dieses weltgrößte Solarturmkraftwerk spielt eine wichtige Rolle für die Energieversorgung Marokkos", sagt Mamoun Bedraoui Drissi, Projektmanager von Masen, der marokkanischen Agentur für erneuerbare Energien. Es ist das von Weitem sichtbare Symbol für die marokkanische Energiewende mit einem klaren Ziel: 42 Prozent Strom aus Sonne, Wind und Wasser bis 2020.

"Damit ist Marokko in Afrika Vorreiter bei der Umstellung auf erneuerbare Energiequellen", sagt Markus Faschina von der Kreditanstalt für Wiederaufbau, Außenposten Rabat. Die deutsche Entwicklungsbank steuert mit 864 Millionen Euro – größtenteils als zinsvergünstigte Kredite – ein gutes Drittel zu den Baukosten des Noor-Solarparks bei. 2019 soll der Noor-Komplex fertig sein und dann insgesamt 580 Megawatt Leistung aus drei Solarthermie- und einer Photovoltaikanlage liefern. Mit geringen Kosten zwischen drei und dreizehn Eurocent pro Kilowattstunde sieht sich Marokko als Vorbild für Schwellenländer. Die Nation will zeigen, dass Wirtschaftswachstum und Entwicklung mit dem Klimaschutz vereinbar sind.

Es wäre eine fundamentale Wende, und lange galt sie als realitätsfern. Nun aber belegen jüngste Fakten, dass dieses Ziel zum Greifen nah ist. Nach einer Analyse des Forschungsverbunds Global Carbon Project stagniert der globale CO2- Ausstoß seit drei Jahren trotz stetigen Wirtschaftswachstums nahezu. 2015 betrug er nur noch 0,2 Prozent. Für Studienleiterin Corinne Le Quéré von der britischen University of East Anglia ist das ein "klarer und beispielloser Bruch". Natürlich reicht er nicht. "Nun müssen die globalen Emissionen schnell sinken, anstatt nur zu stagnieren", fordert Le Quéré.

Die Aussichten darauf stehen gut. 2015 errichtete die Welt erstmals mehr neue Wind-, Wasser- und Solarkraftwerke als alle fossil oder nuklear befeuerten Anlagen zusammengenommen. 150 Gigawatt waren es laut dem aktuellen World Energy Outlook der Internationalen Energieagentur IEA. Zudem flossen 288 Milliarden Dollar in die Erneuerbaren – und damit 70 Prozent aller Investitionen im Stromsektor. "Für die kommenden 25 Jahre sehen wir Erdgas, aber besonders auch Wind und Solar als die neuen Champions", sagt IEA-Direktor Fatih Birol. Bis 2040 werden nach der IEA-Analyse neue Kraftwerke zu mehr als 80 Prozent diese beiden Energiequellen nutzen. Auch wenn Erdgas als letztes dominantes Fossil übrig bleiben wird, steckt dahinter auch eine gute Nachricht: Bei der Stromerzeugung setzt es nur halb so viel Kohlendioxid frei wie Kohle.

Noch eine dritte Zahl belegt den hoffnungsvollen Trend: Forscher mehrerer kanadischer Universitäten und von der Wildlife Conservation Society wiesen einen schrumpfenden Fußabdruck der Menschheit nach. Zwischen 1993 und 2009 wuchs die Weltbevölkerung um ein knappes Viertel, die Wirtschaft legte gar um 153 Prozent zu. Parallel stieg der weltweite Verbrauch an Ressourcen nur um neun Prozent. Noch beeindruckender ist die Bilanz in vielen Industrieregionen, etwa in Europa. Dort wurde der menschliche Fußabdruck sogar kleiner.

Diese Länder benötigten also weniger Ressourcen für ihre Wirtschaft, sie förderten weniger Rohstoffe, bauten weniger neue Straßen oder Schienen. Dafür steigern sie stetig ihre Effizienz.

Es wird zugegeben eine gigantische Herausforderung, diesen Weg beizubehalten. Die wirkliche Hürde ist, dass mit den Sektoren Verkehr, Wärme und Industrie fossile Brennstoffe – Kohle, Öl und Erdgas – noch immer mehr als 80 Prozent des globalen Bedarfs an Primärenergie decken. Und weil die Erzeugung der Erneuerbaren schwankt, müssen derzeit immer wieder konventionelle Kraftwerke einspringen. Selbst wenn also der Anteil an Sonne und Wind am Strommix steigt, sinkt nicht in gleichem Maße der CO2-Ausstoß. Zudem geht der Wandel noch zu langsam, um die Erwärmung wirklich auf höchstens zwei Grad bis zum Jahr 2100 begrenzen zu können.

Sollten alle Staaten ihre bisher verkündeten Klimaschutzpläne umsetzen, würde die Erde nach Abschätzung der IEA 2,7 Grad wärmer als im vorindustriellen Zeitalter. Die Ein-Grad-Schwelle wurde 2015 bereits überschritten, 2016 mit 1,3 Grad sogar deutlich. Die Zeit drängt. Umso mehr, als dass in Ländern wie Indonesien, Indien, Japan und Korea Kohlestrom noch auf viele Jahre hinaus eine tragende Rolle spielen soll. Russland setzt weiterhin auf Erdgas sowie Kernkraft und hat keine nennenswerte Strategie für erneuerbare Energien.

Und doch hat das Jahr 2015 gezeigt: "Der Trend hin zu sauberer Energieerzeugung ist unumkehrbar." So schrieb es Barack Obama im Fachmagazin "Science" kurz vor der Amtsübergabe an Donald Trump. Der Satz ist mehr als der Versuch eines scheidenden Präsidenten, sein politisches Erbe zu retten. "Weltweit sind die Kosten der grünen Technologien drastisch gefallen", sagt Adnan Z. Amin, Direktor der Internationalen Agentur für erneuerbare Energien (Irena) mit Hauptsitz in Abu Dhabi. Allein die Solarstromerzeugung über Photovoltaik sei heute 80 Prozent günstiger als noch vor sieben Jahren. Preise für Windstrom fielen im gleichen Zeitraum um ein Drittel. "In vielen Ländern ist Strom aus erneuerbaren Quellen bereits der günstigste, der ins Stromnetz eingespeist wird", sagt der Irena-Direktor.

Nun gehören Lobeshymnen auf die Erneuerbaren quasi zur Aufgabenbeschreibung eines Irena-Direktors. Doch mehrere aktuelle Ausschreibungen von Wind- und Solarkraftwerken geben Amin recht. So entsteht in Sweihan im arabischen Emi-rat Abu Dhabi ein 350-Megawatt-Solarkraftwerk, für das ein asiatisches Konsortium nur noch mit knapp 2,4 Eurocent pro Kilowattstunde kalkuliert. Eine Erweiterung auf 1000 Megawatt Leistung ist vorgesehen. Kohlestrom für mindestens vier Eurocent pro Kilowattstunde wäre hier chancenlos. Sogar der Ölstaat Saudi-Arabien kündigte Mitte Januar an, in den kommenden fünf Jahren bis zu 50 Milliarden Dollar in Ökostromprojekte zu investieren. Von diesen Kampfpreisen der Photovoltaik könnten schon bald viele Staaten in sonnenreichen Regionen, sei es in Afrika oder Asien, profitieren.

In der chilenischen Atacamawüste etwa könnte schon bald ein Photovoltaik-Solarpark mit mehr als 1170 Megawatt diesen Preis unterbieten. Ein asiatisches Konsortium, deren Mitglieder die zuständige chilenische Behörde Corfo noch nicht nennen möchte, soll sich mit einem Preis von 2,2 Eurocent pro Kilowattstunde um den Bau des Solarparks beworben haben. "Die Atacama bietet die intensivste Sonneneinstrahlung weltweit mit gut 4000 Sonnenstunden pro Jahr", sagt Corfo-Vizedirektor Eduardo Bitran Colodro. Damit ließe sich in der kargen Andenwüste sogar Solarstrom für unter zwei Cent produzieren.

Gleichzeitig stehen stromhungrige Abnehmer bereit, für die billiger Strom ein gigantischer Wettbewerbsvorteil ist: Kupferminen, die sich im Tagebau Dutzende Quadratkilometer durch die dünn besiedelte Gegend nagen. In ihren elektrischen Öfen schmelzen sie das wertvolle Metall aus den geförderten Erzen. Die Heizphasen der Öfen ließen sich gar an die schwankende Erzeugung von Solarstrom ausrichten, um effizientes Lastmanagement zu betreiben und auf teure Stromspeicher zu verzichten. Ein zweiter Abnehmer könnten die expandierenden Lithiumminen werden. Lithiumsalze bilden eine der weltweit wichtigsten Ressourcen für die boomende Akku-Industrie. In der Atacama liegen große Vorkommen, und um aus den abgebauten Salzen möglichst reines weißes Lithiumcarbonat für den Export zu erhalten, kommen stromfressende Reinigungs- und Trocknungsverfahren zum Einsatz.

Was derzeit in sonnenreichen Regionen passiert, dürfte sich bald zum weltweiten Muster entwickeln: Laut einer aktuellen Energiestudie des Finanzdienstleisters Bloomberg soll Solarstrom bis 2025 im globalen Durchschnitt billiger als Kohlestrom werden. Die Windenergie folgt der Entwicklung. Eines der besten Beispiele dafür stammt aus Texas, das lange eher durch seine Erdölindustrie bekannt war. Im dünn besiedelten Westen des US-Bundesstaates wuchsen binnen weniger Jahre zahlreiche Windparks mit Hunderten Megawatt Leistung.

Zuvor dominierten hier Baumwoll- und Getreidefarmen, und auf einigen Ölfeldern neigen noch Pferdekopfpumpen ihre Häupter im Fördertakt. "Früher vertrauten hier die Farmer darauf, dass es irgendwann regnete", sagt Rolan Petty und stampft mit seinem Stiefel in den trocken-staubigen Boden. Heute schätzt der Farmer das stetige Einkommen der Windmühlen auf seinem Land. "Während der Dürre 2011 haben hier viele Bankrott angemeldet, außer die Farmer mit Windrädern auf ihrem Grund", sagt Rolans Bruder Russ. Heute zieht sich ein lichter Wald aus Windrädern bis zum Horizont. Seit 2006 stellt die Petty-Familie ihren Boden der 735-Megawatt-Windfarm Horse Hollow und einem weiteren Windpark zur Verfügung. Für jede Anlage auf ihrem Grund erhält sie 7500 Dollar Pachtgebühren, jedes Jahr. "So blieb das Land im Besitz der Familie", sagt Russ Petty. Und seine Farm ist dabei noch ein kleiner Fisch beim großen Boom der Erneuerbaren in den USA.

Heute summiert sich allein die Leistung aus allen texanischen Windparks auf knapp 18000 Megawatt. Wäre Texas ein Land, läge es im internationalen Vergleich auf Platz sechs. An windigen Wintertagen decken die Texasmühlen bereits mehr als 40 Prozent des Strombedarfs. "Und es gibt hier noch viele leere Flächen für weitere große Projekte", sagt Greg Blair vom Unternehmen American Electric Power. Auf der anderen Seite des Atlantiks nimmt die Geschichte eine ähnliche Richtung. Vor der britischen Küste fiel 2016 der Startschuss für den weltgrößten Offshore-Windpark. Hornsea soll 5,4 Milliarden Euro kosten und 1,2 Gigawatt leisten. Aber nicht nur die Anlagen erreichen gigantische Ausmaße, auch die Preise sinken.

Nur noch knapp fünf Eurocent pro Kilowattstunde veranschlagt das Energieunternehmen Vattenfall für den Ostsee-Windpark Kriegers Flak. Die Windräder stehen in 25 Metern Wassertiefe auf gut 50 Meter langen stählernen Stelzen oder Dreibeinen, den Tripods. Diese sind mit Stahlrohren verankert, die bis zu 30 Meter tief in den Meeresboden gerammt werden. Etwa 15 Kilometer vor der dänischen Küste sollen 60 bis 200 Windmühlen bis zu 600 Megawatt Leistung bringen und ab 2018 Strom liefern. Kriegers Flak wird dabei per Gleichstrom-Hochspannungskabel Dänemark, Schweden und Deutschland verknüpfen. So kann nicht nur der auf offener See erzeugte Windstrom in die Anrainerstaaten transportiert werden. Zugleich entsteht mitten in der Ostsee ein Netzknoten eines Supergrids, über die drei Länder ihren Strom austauschen werden.

Solche Kopplungen stabilisieren die Stromnetze, da überschüssiger Strom exportiert oder sich eine kurzfristige Unterversorgung durch Importe ausgleichen lässt. Kosten sind jedoch nur der eine Grund des Booms. Ein zweiter: Strom aus Wind, Wasser und Sonne macht viele Staaten unabhängiger von Energieimporten. Ein Gigant wie China hängt so weniger an den Gas- und Ölhähnen Russlands oder Arabiens. Energiezwerge wie Marokko können den Import fossiler Brennstoffe, auf dem noch vor einigen Jahren die gesamte Energieversorgung gründete, stetig reduzieren. Ein dritter: die Luftverschmutzung. Wieder ist China das Paradebeispiel.

Eigentlich wollte das Land bis 2022 ganze 300 Gigawatt Kohlekraftwerke zubauen. Doch Hunderte Millionen Chinesen leiden unter extremer Luftverschmutzung, auch die Regierungskader in Peking müssen allzu oft giftige Smogluft atmen. Der neue 13. Fünfjahresplan sieht daher nur noch 200 Gigawatt vor. Das entspricht zwar immer noch der Hälfte des gesamten deutschen Kraftwerkparks. Parallel wird jedoch der Anteil nichtfossiler Quellen steigen, um binnen drei Jahren auf insgesamt 2000 Gigawatt zu kommen. Bis 2020 soll die gewaltige Summe von 343 Milliarden Euro in den Ausbau der Erneuerbaren fließen. "Wir wollen spätestens 2030 den Höhepunkt unserer CO2-Emissionen überschreiten", sagt Liu Qiang, Energieexperte der Nationalen Entwicklungskommission NCSC. Das Land der Mitte entwickle sich zur Führungsnation bei den Erneuerbaren, meint Tim Buckley vom Institute for Energy Economics and Financial Analysis, einem US-amerikanischen Think Tank. "China hat verstanden, dass die Erneuerbaren ein enormes Wirtschaftspotenzial bieten. Die USA könnten in wenigen Jahren mit Bedauern zurückschauen."

Und Deutschland? Vergangenes Jahr lag der Ökostromanteil bei 32,3 Prozent, so hoch wie noch nie zuvor. Bei der Windkraft nähern sich die Stromgestehungskosten an den besten Standorten im deutschen Binnenland der Fünf-Cent-Marke, wie der Bundesverband Windenergie betont. Betreiber der neuesten Solarparks kalkulieren nach Angaben der Bundesnetzagentur mit knapp sieben Eurocent pro Kilowattstunde. "Langfristig könnte eine EEG-Förderung der erneuerbaren Energien sogar komplett überflüssig werden", meint Erik Gawel, Energieökonom vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig.

Doch der erste Blick trügt: 2016 stiegen die Treibhausgasemissionen um fast ein Prozent. Warum kommt Deutschland beim Klimaschutz nicht schneller voran? Wer sich die Zahlen näher anschaut, entdeckt Antworten, die weltweit von Bedeutung sind. Nur ein Drittel der Treibhausgasemissionen entfiel 2016 auf die Kohleverstromung – und deren CO2-Ausstoß lag sogar gut anderthalb Prozent unter dem des Vorjahrs. Großen Nachholbedarf "haben wir indes bei der Wärmewende und bei der Verkehrswende", betont Energieökonom Gawel. "Bei der Elektromobilität sieht es in Deutschland nicht gerade nach Weltmarktführerschaft aus", setzt er süffisant hinzu. Patrick Graichen, Direktor des Think Tanks Agora Energiewende, fügt an: "Die Energiewende ist eben nicht nur eine Sache des Stromsektors. Jetzt müssen auch Industrie, Wärme und Verkehr ihre Beiträge liefern."

Deutschland steckt mitten im entscheidenden zweiten Schritt der Wende. Wer sein Land durchgängig mit 50 bis 60 Prozent Ökostrom versorgen will, benötigt ein drastisch umgebautes Energiesystem. Die Energieversorgung muss sich weiter dezentralisieren, die Standorte neuer Wind- und Solarparks näher an die großen industriellen Stromabnehmer heranrücken. Die Bereiche Wärme, Strom und Mobilität müssen zusammenwachsen. Damit benötigt das Übertragungsnetz eine neue Architektur. "Man muss eine vernünftige Balance zwischen dem Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugung und dem Ausbau der Stromnetze finden", sagt Gawel. Zusätzlich müssen Erzeugung und Verbrauch besser aufeinander abgestimmt werden. Speichertechniken sind nötig, um Schwankungen in der Wind- und Solarstromerzeugung für Sekunden, Stunden und Tage oder gar Monate auszugleichen.

Ansätze gibt es zuhauf: Der Technologiekonzern ThyssenKrupp will mit seinem Projekt Carbon2Chem aus überschüssigem Strom Wasserstoff herstellen. So ließe sich Kohlenmonoxid aus Hüttengasen in Methangas, Polymere oder Düngemittel umwandeln. "Das ist eine Art der Energiespeicherung, nur eben nicht in Batterien, sondern in Produkten", sagt Cheftechnologe Reinhold Achatz. Bisher verbrennt ThyssenKrupp die Hüttengase unter CO2-Ausstoß. Am Stadtrand Schwerins ballen sich in einem unauffälligen Nutzbau 25600 Lithium-Ionen-Akkus auf zwei Etagen übereinander. Seit zweieinhalb Jahren gleichen sie mit einer Kapazität von fünf Megawattstunden Schwankungen der Netzfrequenz aus.

Längere Stromflauten könnten bald Redox-Flow- oder Flüssigbatterien überbrücken – oder sogar Betonkugeln am Meeresboden. Sie sind hohl, der Druck in bis zu 700 Metern Tiefe presst Wasser hinein, das eine Turbine antreibt. Überschüssiger Strom, etwa aus einem Offshore-Windpark, pumpt sie wieder leer. Im Bodensee testete kürzlich das Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik eine derartige Kugel mit drei Metern Durchmesser in 100 Metern Tiefe – mit Erfolg. Für sinnvoll halten die Entwickler zehnfach größere Kugeln, die pro Stück 20000 Kilowattstunden speichern könnten.

Fehlt Energie aus Wind und Sonne über Wochen oder gar Monate, soll Power-to-Gas die Lücke füllen. Grüner Strom würde per Elektrolyse Wasserstoff oder Methan erzeugen. Bundesweit nutzen mehr als 20 Projekte diese Speichervariante, der überwiegende Teil der Pilotanlagen läuft bereits. Noch muss ihr Preis sinken. Aber es ist wahrscheinlich, dass Power-to-Gas deutlich vor Mitte des Jahrhunderts eine Schlüsselrolle für die Energiewende spielen wird – und damit viel früher als ursprünglich prognostiziert.

Viele Länder beobachten, wie Deutschland diese Umstellung gelingt. Insbesondere China dürfte genau hinschauen, denn dort kündigen sich die deutschen Probleme bereits an: Das Stromnetz hat mit dem massiven Ausbau der Erneuerbaren nicht Schritt gehalten. Ganze Solarparks in den Wüstenregionen im Westen Chinas stehen nutzlos in der Gegend, weil der Netzanschluss fehlt. 2016 sanken daher die chinesischen Investitionen in Erneuerbare, so eine Studie von Bloomberg New Energy Finance. "Die Regierung konzentriert sich stattdessen darauf, mehr Geld in die Netze zu stecken und den Energiemarkt zu reformieren", sagt Bloomberg-Experte Justin Wu.

Zusätzlich eröffnet China dieses Jahr seinen nationalen Emissionshandel und schafft damit den größten CO2-Markt der Welt. Viele Energieökonomen halten dies für den richtigen Schritt. Denn er kann die gewaltigen Geldsummen bereitstellen, die für die Umstellung des Energiesystems nötig sind. "Der Emissionshandel ist der Dreh- und Angelpunkt der Klimapolitik", sagt UFZ-Ökonom Gawel. Wenn der Ausstoß einer Tonne CO2 nicht mehr wenige Euro wie heute, sondern mehr als 20 Euro kostet, werden nicht nur Solar- und Windstrom konkurrenzlos günstig. Auch für Stromspeicher, Energiesparmaßnahmen, alternative Antriebe in Luftfahrt, Schiffs- und Autoverkehr würde die wirtschaftliche Bilanz deutlich besser aussehen. Auch die EU will daher ernst machen und ab 2021 die Emissionsrechte so stark verknappen, dass die Preise für CO2-Zertifikate spürbar steigen.

Natürlich kann die Entwicklung noch immer kippen. Aber viele Investoren scheinen davon nicht mehr auszugehen. Immer mehr große Unternehmen ziehen ihre Investitionen aus klimaschädlichen Projekten ab. Begonnen hatte das sogenannte Divestment mit einzelnen Trägerfonds amerikanischer Universitäten wie Stanford und Harvard. Seit 2012 steigt die Zahl der Divestment-Freunde, mittlerweile gehören weltweit knapp 700 Institutionen und mehr als 58000 Privatpersonen dazu. Mit dabei sind finanzstarke Investoren wie der Norwegische Pensionsfonds, Versicherungsgesellschaften wie AXA und Allianz oder auch die Rockefeller-Stiftung. Insgesamt verfügen sie über ein Kapital von etwa 5500 Milliarden Dollar. In Deutschland mag man bisweilen das Gefühl haben, den Herbst der Energiewende zu erleben – weltweit steht der Frühling gerade erst bevor.

(bsc)