Opfer müssen gebracht werden (Teil 3)

Otto Li­li­ent­hals Per­sön­lich­keit war durch Ge­gen­sät­ze ge­zeich­net. Ei­ner­seits war er ein akri­bisch ar­bei­ten­der Tech­ni­ker und Wis­sen­schaft­li­cher, auf der an­de­ren Sei­te aber auch ein Künst­ler. In Ab­hand­lun­gen über sein Le­bens­werk stan­den in der Re­gel der Tech­ni­ker und Wis­sen­schaft­ler im Vor­der­grund. Der Künst­ler Otto Li­li­ent­hal wur­de bis­her in der Li­li­ent­hal-Ge­schichts­schrei­bung weit­ge­hend ver­nach­läs­sigt, erst recht die Wir­kung, die die künst­le­ri­schen Nei­gun­gen auf die wis­sen­schaft­lich-tech­ni­schen Ar­bei­ten hat­te.

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Von
  • Burkhard Fleischer
Inhaltsverzeichnis

Das Ti­tel­bild Li­li­ent­hals Haupt­werk zeigt fünf krei­sen­de Stör­che. Dies Blatt hat Li­li­ent­hal ei­gen­hän­dig ge­stal­tet. In sei­nem Nach­lass fin­den sich nicht nur tech­ni­sche Zeich­nun­gen, son­dern Skiz­zen und Gra­fi­ken mit un­ter­schied­li­chen Mo­ti­ven: Land­schafts­bil­der, na­tu­ra­li­sti­sche Ge­bäu­de­an­sich­ten, Por­träts verschiedener Per­so­nen und ver­schie­den­ster Si­tua­tio­nen. Der er­ste Ab­satz der Ein­lei­tung zu sei­nem Haupt­werk liest sich wie ein poe­ti­scher Lob­ge­sang auf den Storch. Im näch­sten Ab­satz häu­fen sich sug­ge­sti­ve Fra­gen, die appellative, aber nicht in­for­ma­ti­ve Funk­tio­nen ha­ben. Aus all dem spricht die emo­tio­na­le Ener­gie, mit der der Au­tor sein Vor­ha­ben skiz­ziert, näm­lich dem Vo­gel sein Ge­heim­nis, flie­gen zu kön­nen, ent­rei­ßen zu wol­len. Und im­mer wie­der taucht sein Kre­do auf: Be­ob­ach­tung der Na­tur! Die Na­tur war Li­li­ent­hals stän­di­ger Ori­en­tie­rungs­punkt, so­wohl tech­nisch als auch äs­the­tisch.

Zeichnung, mit der Lilienthal seine Theorie des Ruderfluges graphisch darstellt

(Bild: Otto Lilienthal, „Der Vogelflug...“)

Li­li­ent­hal griff 1873 in sei­nem Vor­trag die Bal­lon­fah­re­rei scharf an. Mit de­ren Fahr­zeu­gen sei man der Will­kür des Win­des aus­ge­lie­fert. Stellt man die Lei­stun­gen der da­ma­li­gen Bal­lons den spä­te­ren Fluglei­stun­gen der Li­li­ent­hal­schen Glei­ter ge­gen­über, so wa­ren letz­te­re be­schei­den: 250 Me­ter Flug­strec­ke, eine Flug­hö­he von nur we­ni­gen Me­tern über Grund, Flug­zei­ten, die sich nur in Se­kun­den mes­sen lie­ßen. Und die Flü­ge wa­ren orts­ge­bun­den, denn es wa­ren Ab­hän­ge er­for­der­lich, von de­nen her­ab­ge­sprun­gen wer­den muss­te.

Otto Lilienthals Fliegerberg in Gr.-Lichterfelde

(Bild: Gustav Lilienthal, „Die Entwicklung“, Vorwort zur 2. Auflage, „Der Vogelflug...“ 1910, S. XIX)

Be­reits seit Be­ginn der Flug­ver­su­che war Li­li­ent­hal be­wusst, dass der Gleit­flug nur ein er­ster Schritt war, um nicht nur die Flug­phy­sik zu er­grün­den, son­dern auch die Pra­xi­staug­lich­keit der Kon­struk­ti­on aus­zu­pro­bie­ren und als Pi­lot kurz­schrit­tig flie­gen zu ler­nen (sie­he Stephan Nitsch, Vom Sprung zum Flug, Ber­lin1991). Um die Orts­ge­bun­den­heit mit sei­nem Flugap­pa­rat zu über­win­den, muss­te er mo­to­ri­siert wer­den. Da­bei stan­den zwei Wege of­fen: Der er­ste war, das Auf­triebs- und Vor­trieb­sor­gan funk­tio­nal von­ein­an­der zu tren­nen. Dies kann ein­fach mit dem Pro­pel­le­ran­trieb voll­zo­gen wer­den, wie es die Ge­brü­der Wright bei ih­rem er­sten mo­to­ri­sier­ten Flug prak­ti­zier­ten. Der zwei­te Weg war, bei­de Funk­tio­nen in ei­nem Or­gan zu be­las­sen, wie es die Na­tur mit dem Vo­gel­flü­gel rea­li­siert. Li­li­ent­hal war nicht nur der An­sicht, dass die Na­tur als Lehr­mei­ster die op­ti­ma­le tech­ni­sche Lö­sung vor­gab, son­dern es war die Äs­the­tik des Vo­gel­flugs, die die Rich­tung vor­gab. Der Tech­ni­ker war dem Künst­ler nach­ge­ord­net. Tech­nisch war der von Li­li­ent­hal ein­ge­schla­ge­ne Weg der schwie­ri­ge­re, der bis heu­te nicht rea­li­siert wor­den ist.

Li­li­ent­hal ver­ein­te in sich tech­nisch-wis­sen­schaft­li­che mit künst­le­ri­scher Ori­en­tie­rung. Be­reits in dem an­ti­ken My­thos von Ika­rus und Dae­da­lus tref­fen der bo­den­stän­di­ge Hand­wer­ker Dae­da­lus und der him­mels­stür­men­de Vi­sio­när Ika­rus zu­sam­men Aber der Künst­ler Li­li­ent­hal hat über den Wis­sen­schaft­ler ob­siegt, die Vi­si­on über die Ra­tio.