Opfer müssen gebracht werden (Teil 3)
Seite 2: Otto Lilienthal und der Opfergedanke
Ob Lilienthals als letzten Satz, „Opfer müssen gebracht werden“, wirklich geäußert hat, ist umstritten. Paul Beylich, ein langjähriger Helfer Lilienthals, der als einziger bei Lilienthals Absturz zugegen war, sagte hierzu nichts. Im Gegenteil, Lilienthal schien die Schwere seiner Verletzung unterschätzt zu haben und glaubte, nach kurzer Erholungspause mit den Flugversuchen fortfahren zu können.
Bereits zeitnah zu Lilienthals Absturz tauchte der Opfergedanke in einem Nachruf in der „Berliner Illustrirten Zeitung“ von 1896 auf: „Und nun ist er tot, ein Opfer seiner Idee“. Interessant an dieser Quelle ist, dass der Opfergedanke nicht als Lilienthals Äußerung zitiert wird, sondern von einem Dritten benutzt wird, um Lilienthals Tod einzuordnen.
Otto Lilienthals Bruder Gustav griff den Opfergedanken vierzehn Jahre später in einer biographischen Notiz zur 2. Auflage des Werkes „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst“ 1910 auf, allerdings als persönliche Würdigung der Leistung seines Bruders: „Zu Tode getroffen fiel er, ein Opfer für die große Idee, die damals zwar noch gering geachtet, heute aber in ihrer vollen Tragweite in der ganzen zivilisierten Welt auch anerkannt ist“.
Erst 1930 in der biographischen Notiz „Die Lilienthals“ von Anna und Gustav Lilienthal taucht die berühmte Formel auf, allerdings nicht als verkürztes Zitat, sondern als Annahme: „(S)eine letzten Worte sollen gewesen sein: .Opfer müssen gebracht werden!`“. Seitdem, also erst seit 1930, waren diese Wort in der Welt.
Dem Opfergedanken liegen sehr vielschichtige Vorstellung zugrunde. In der heutigen säkularisierten Welt herrscht eine passive Vorstellung, nach der Einzelne oder eine Gruppe ungewollt Handlungen Anderer erleiden müssen. Ein klassisches Beispiel wären Opfer von Gewalttaten oder Verkehrsopfer. Bei letzterem wäre die Grenze zwischen Opfer und Täter bereits fließend: Der Autofahrer, der durch überhöhte Geschwindigkeit zu Schaden kommt, ist Täter und Opfer zugleich.
Nicht alle Flüge Lilienthals verliefen glatt. So manches Mal stürzte er aus mehreren Metern Höhe ab und trug so einige Blessuren davon. Um das Risiko zu minimieren, versah er seinen Flugapparat mit einem Aufprallbügel, der bei einem unbeabsichtigten Absturz die Aufprallenergie absorbieren sollte. Lilienthal war sich des Risikos, das er mit seinen Flügen einging, durchaus bewusst. Er nahm aber seine Selbstschädigung billigend in Kauf, um seine Idee ehrgeizig zu verwirklichen. In diesem Sinne war auch Lilienthal Täter und Opfer zugleich.
Ursprünglich entstammt der Opfergedanke dem sakralen Bereich. Als Sühneopfer sollte der menschliche Frevel, der Verstoß gegen die göttliche Ordnung, der den Zorn der Götter hervorrief, entschärft werden. Die Götter sollten mit dem Frevler versöhnt werden. In diesem Sinne ist Lilienthal nicht Dädalus, der kunstfertige Handwerker und Techniker, sondern Ikarus. Ikarus ignorierte den väterlichen Rat, nicht zu hoch zu fliegen, damit das Wachs in den Flügeln nicht schmelze, und stürzte deshalb tödlich ab. Lilienthal greift den sakralen Gedanken auf, kehrt ihn aber um: Das menschliche Flugverbot deutet er nicht göttlich, sondern das Gegenteil ist der Fall. Aus der von Gott geschaffenen Fähigkeit des Menschen, mittels seines Verstandes die Welt zu verstehen und zu gestalten, erwächst geradezu eine Verpflichtung, seinen Verstand auch zu gebrauchen. Und dieser empfundene göttliche Auftrag führt zu einem Allmachtsanspruch, Vorläufern und Konkurrenten gleichermaßen überlegen zu sein.
Diese Selbststilisierung als Messias ist von der Lilienthal-Geschichtsschreibung aufgegriffen und zu einem modernen Heldenmythos verklärt worden: Lilienthals persönliche Leistungen, seine systematische und beharrliche wissenschaftliche Arbeit würden ihn von den Arbeiten seiner Vorgänger abgrenzen und die Quelle seines persönlichen Erfolges bilden. Allerdings wurden die Quellen, aus denen er schöpfte, die Untersuchungen und Erkenntnisse, die ihn inspirierten, kurzum die Recherche als wissenschaftliche Basis für neue Forschung nie thematisiert.
Lilienthal wurde nach seinem Absturz als „moderner Ikarus“ bezeichnet. Und die Figur des Ikarus steht als Symbol für „praktische und theoretische Neugierde, für ein Wagnis, das nur und gerade durch das einzugehende Risiko den Gewinn verspricht und lohnt“ (Sabine Höhler, Luftfahrforschung und Luftfahrtmythos, Frankfurt/Main 2001, S. 68). Er ist durch seinen eigenen Ehrgeiz zu Tode gekommen oder, wie es im SPIEGEL kürzlich stand, er „war wohl zu wagemutig“.
Lilienthal ist nicht „genial gescheitert“, wie ein reißerischer Buchtitel vermeldet, sein fliegerisches Werk hat ihn überlebt. Doch andere litten unverschuldet unter seinem frühen Tod und brachten ihrerseits Opfer: Seine Arbeitnehmer verloren ihren Arbeitsplatz dadurch, dass die Firma bald nach seinem Tod Insolvenz anmelden musste. Seine Familie verlor den Vater und den Ehemann und mit ihm die Existenzgrundlage. Deshalb bleibt eine beklemmende Frage: Darf bei einem Menschen, der als Ehepartner und als Arbeitgeber Verantwortung für andere trägt, darf der persönliche Ehrgeiz dennoch so weit gehen, dass am Schluss der Tod steht?
Die persönliche Tragödie Otto Lilienthals repräsentiert die Ambivalenz der durch die Technik geprägten Moderne zwischen Naturbeherrschung und Katastrophe oder, pathetisch formuliert, zwischen menschlicher Anmaßung und Begrenztheit.
- Anlässlich seines Todestags am 10. August 1896 beleuchten wir in einer Artikelserie die künstlerisch-visionäre Seite von Otto Lilienthal. Der erste Teil über die Legendenbildung rund um eine Jugendanekdote ist bereits nachzulesen, ebenso der zweite Teil über seine Forschungsarbeit.
(hch)