Pressearchive dürfen auch Unangenehmes lange vorhalten

Nicht immer ist der Versuch erfolgreich, unliebsame Inhalte per Klage aus dem Netz zu löschen. Unter Umständen kann das zum bösen Bumerang werden.

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Google-Suche

Der BGH entscheidet erstmals zu zwei Klagen gegen Google zum «Recht auf Vergessenwerden» im Internet auf Basis der europäischen Datenschutz-Grundverordnung.

(Bild: dpa, Lukas Schulze/dpa)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Susanne Eberhofer
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Eine Binsenweisheit sagt: "Das Netz vergisst nichts." Zumindest die Google-Suche lässt sich aber dazu bewegen, bestimmte Netzfundstellen nicht mehr zu liefern – und zwar auf Verlangen von Betroffenen. Diesen Stein hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit einem Urteil von 2014 ins Rollen gebracht.

Dass es ein begrenztes "Recht auf Vergessenwerden" im Sinne erweiterter Löschansprüche und -pflichten gibt, steht in Artikel 17 der europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Hintergrund ist die Wahrung der informationellen Selbstbestimmung Betroffener im Hinblick auf personenbezogene Daten. Bei Google ist es relativ einfach, das "Auslisten" bestimmter Suchergebnisse zu beantragen: Die Betreiber stellen online ein "Antragsformular zur Entfernung personenbezogener Daten" bereit.

Wenn es zum Streit über die Löschung unerwünschter Informationen auf Online-Plattformen, auf Websites, in Archiven oder eben auch in Fundstellenlisten von Suchmaschinen kommt, müssen Gerichte entscheiden. Ein solcher Rechtsstreit, der durch mehrere Instanzen bis vor die Tore des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ging, führt direkt in die Niederungen bayerischer Politfolklore. Ein prominenter Rechtsanwalt, ansässig in Oberbayern, ist der Sohn eines früheren Oberbürgermeisters einer bayerischen Großstadt. Der Ex-OB, der vor einigen Jahren starb, hat sich zu Zeiten seines politischen Wirkens einen zweifelhaften Ruf als Polterer und durch diverse Affären erworben.

Die Anmerkung auf Trefferseiten besagt, dass Fundstellen auf Antrag Betroffener ausgelistet worden sind.

1978 brachte der "Spiegel" unter dem Titel "Tradirallala in Vorderpfuideifi" einen glossierenden Bildbericht über den nach Gutsherrenart agierenden Politiker. Im Artikel erwähnte das Nachrichtenmagazin auch die Kinder, darunter den damals erst 14-jährigen späteren Anwalt.

Jener hat nun ein lebhaftes Interesse daran gezeigt, dass sein Name in der Öffentlichkeit nicht mit dem seines Vaters in Verbindung gebracht wird. Er versuchte etwa einen Blogbeitrag des ehemaligen bayerischen Landtagsabgeordneten Günther Felbinger aus dem Netz zu klagen. Felbinger hatte 2012 darüber berichtet, dass der Anwalt sich für die eigentlich bauvorschriftswidrige Rettung seiner "idyllischen Bootshütte am Chiemsee" bei der "Partei seines Vaters" bedanken könne. Das mit der Sache befasste Landgericht (LG) Hamburg wies die Klage 2015 ab. In Bezug auf einen bereits früher veröffentlichten Text zur gleichen Affäre hatte das Oberlandesgericht (OLG) München 2010 entschieden, dass der Name des Vaters "zu einer kritischen Berichterstattung" über die Frage gehört, "ob dem Kläger als Sohn eines ehemaligen hochrangigen … Politikers Privilegien gewährt wurden".

Der Rechtsanwalt wollte es noch einmal wissen – diesmal in Bezug auf den immer noch im Online-Archiv verfügbaren uralten "Spiegel"-Artikel. Er wollte den "Spiegel"-Verlag zwingen, seinen Namen aus dem Bericht zu tilgen. Vor dem LG und dem OLG in Hamburg scheiterte er damit. Das BVerfG schließlich nahm 2020 die Verfassungsbeschwerde des Anwalts gegen die beiden Urteile nicht zur Entscheidung an. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, so die Verfassungsrichter, "schützt im Schwerpunkt vor den spezifischen Gefährdungen der ... Datensammlung und -verknüpfung …, nicht vor der Mitteilung personenbezogener Informationen im öffentlichen Kommunikationsprozess". Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, auf das der Rechtsanwalt ebenfalls abhob, gewährleistet dem BVerfg zufolge "nicht das Recht, öffentlich so wahrgenommen zu werden, wie es den eigenen Wünschen entspricht". Die Presse und die Allgemeinheit wiederum haben, so die Verfassungsrichter, ein schutzwürdiges Interesse daran, dass inhaltlich nicht modifizierte Presseberichte in Online-Archiven verfügbar sind.

Besser lässt sich der „Streisand-Effekt“ nicht demonstrieren: Jetzt berichtet sogar das Boulevard-Newsportal Tag24 über den fehlgeschlagenen Versuch, die unerwünschte Information zu unterdrücken.

Der beschriebene Fall zeigt im Übrigen sehr gut den immer wieder zu besichtigenden "Streisand-Effekt", benannt nach dem US-amerikanischen Film- und Showstar Barbra Streisand. Sie hatte 2003 einen hohen Schadenersatz dafür verlangt, dass ihr Haus auf einem von zahllosen auf "Pictopia" veröffentlichten Luftbildern der kalifornischen Küste zu sehen war. Bis dahin hatte das praktisch niemanden interessiert, aber ihre erfolglose 50-Millionen-Dollar-Klage führte dazu, dass das Foto sich im Netz wie ein Lauffeuer verbreitete.

Einen ähnlichen Bumerang handelte sich der oberbayerische Rechtsanwalt durch seine Verfassungsbeschwerde ein: Selbst wer den Namen des Anwalts zuvor nie kannte, liest diesen jetzt vielerorts im Zusammenhang mit dem Fall – und mit seinem Vater.

Dass das "Recht auf Vergessenwerden" nicht willkürlich durchzusetzen ist und insbesondere dann Grenzen findet, wenn es um das Auffinden von Material in Online-Pressearchiven geht, hat auch der Bundesgerichtshof (BGH) mit einer Entscheidung vom Juli 2020 gezeigt. Es ging um einen Fall, den wir nach dem Urteil in der zweiten Instanz 2018 bereits beschrieben haben.

Der ehemalige Geschäftsführer des Regionalverbands Mittelhessen des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) musste für ein Finanzloch von einer Million Euro geradestehen und hatte sich krank gemeldet, kurz bevor die Sache öffentlich wurde. Jahre später wollte er die Löschung aller einschlägigen Google-Fundstellen erzwingen und scheiterte. Das OLG Hamburg hatte dem Kläger die Weisheit ins Stammbuch geschrieben, dass man Ereignisse, die zum eigenen Lebenslauf gehören, nicht einfach ausradieren kann.

In der Revision lehnte nun auch der BGH wie bereits die Vorinstanzen einen Anspruch des Klägers auf Auslistung der alten Berichte aus den Suchergebnissen ab. Der ehemalige ASB-Mann hatte sich auf den oben bereits genannten Artikel 17 der DSGVO berufen.

Ein weiteres BGH-Urteil zur Auslistung von Fundstellen erging noch am selben Tag wie das eben genannte. Diesmal ging es nicht um ein Pressearchiv im eigentlichen Sinn, sondern um mehrere kritische Artikel auf der Website eines US-Unternehmens, das sich "aktive Aufklärung und Transparenz" auf die Fahnen geschrieben hat, um "nachhaltig zur Betrugsprävention in Wirtschaft und Gesellschaft beizutragen". Betroffen waren ein in der Finanzdienstleistungsbranche in verantwortlicher Position tätiger Mann und seine Lebensgefährtin.

Details des Falles hatten regelrechte Krimi-Qualität: So gab es Berichte, denen zufolge die selbsternannten Aufklärer ein geradezu erpresserisches Geschäftsmodell pflegten und die Löschung kritischer Artikel gegen die Zahlung einer Art Schutzgeld anboten. Auch der Kläger erklärte, dass man mit einem solchen Angebot auf ihn zugekommen sei. Ihm ging es darum, dass Google es unterlassen sollte, auf die Eingabe seines Namens und der Bezeichnungen seiner Gesellschaften hin auf die fraglichen Artikel zu verweisen und dabei auch Foto-Thumbnails zu zeigen. Nachdem das Klägerpaar in zwei Instanzen erfolglos geblieben war, setzte der BGH nunmehr das Verfahren aus und legte dem EuGH zwei Fragen zur Beantwortung vor. Die erste betrifft die Möglichkeit, vorläufig die Verweise zu den angeblich wahrheitswidrigen Inhalten zu stoppen, bevor eine endgültige Interessenabwägung vorgenommen werden kann. Die zweite betrifft die Einschränkung einer Thumbnail-Fotosuche auf Eingabe eines Namens unter den gegebenen Umständen.

Es gibt einen wichtigen Unterschied zu den beiden zuvor dargestellten Fällen: Diesmal sind Inhalte im Spiel, deren Wahrheit der Betroffene bestreitet. Es geht um Tatsachenbehauptungen und auf solchen Behauptungen beruhende Wertungen. Die Auswirkungen auf die Grundrechtsabwägung entsprechend der EU-Grundrechtecharta (GRCh) hat nun der EuGH einzuordnen.

Löschungsbegehren sind wiederholt mit dem Recht der Presse kollidiert, auch über mittlerweile historisch gewordene Vorgänge zu berichten, frühere Berichte zu zitieren und diese der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Ein Anspruch auf Löschung besteht allerdings für Informationen, die die Persönlichkeitsentfaltung von Betroffenen erheblich beeinträchtigen. Dann kann die Waage kippen, etwa wenn es um Verweise auf frühere schwere Straftaten geht. Die Rechtsprechung berücksichtigt auch die Frage, wie wahrscheinlich strittige Inhalte ins Auge fallen: Je mehr Recherche zum Auffinden der Informationen notwendig ist, desto größer ist das Hindernis für einen Löschanspruch.

Das Recht auf Vergessenwerden ist keine Allzweckwaffe, um Unangenehmes aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen. Und wenn die unerwünschten Inhalte in den Google-Ergebnislisten ohnehin bereits weit nach hinten gerutscht sind, tut mancher besser daran, auf die Trägheit und Vergesslichkeit des Netzpublikums zu setzen. Gerade wer allzu auffällig versucht, gegen Spuren unliebsamer Online-Inhalte vorzugehen, wird möglicherweise die Erfahrung machen: Letzten Endes vergisst das Netz doch nichts – jedenfalls nichts, was jemand publikumswirksam verschwiegen haben möchte.

Dieser Artikel stammt aus c't 19/2020. (psz)