Schwarm in der Sackgasse

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Dafür analysierte er mit Universitätsforschern aus Minnesota und Kalifornien die Log-Einträge der Artikel. Seit 2007 wurden Beiträge von Neulingen immer häufiger sofort durch Bots entfernt – wobei die automatischen Löschungen jene durch Redakteure inzwischen bei Weitem übersteigen. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass unter den Wikipedianern technikinteressierte Männer aus westlichen Ländern dominieren. Das hat Folgen: In 84 Prozent aller Einträge liegt der Ort, der in der Verschlagwortung auftaucht, in Europa oder Nordamerika. Selbst auf die Antarktis bezogen sich in der englischen Wikipedia 2011 mehr Artikel als auf irgendein Land in Asien oder Südamerika, wie eine Studie der University of Oxford herausfand. Und Einträge, die Frauen verfasst haben, sind in der Regel deutlich kürzer als die ihrer männlichen Mitstreiter.

Dass der Redakteursschwund der Wikipedia schadet, will Sue Gardner so zwar nicht stehen lassen. Eine Generalüberholung der Enzyklopädie hält aber auch sie für unumgänglich. "Die Wikipedianer erinnern mich an einen mürrischen Newsroom-Redakteur, der die Stilvorlagen rückwärts aufsagen kann", sagt die gelernte Journalistin. "Wo aber sind die begeisterten Nachwuchsreporter?" Die würden der Wikipedia fehlen.

Gardner bildete bereits 2012 zwei Teams – eines für Wachstum und eines für Kernfunktionen –, die das Problem über neue Elemente in der Website angehen sollten. Eine Idee war der "Thank"-Button, analog zum "Like"-Button bei Facebook. Seit Mai 2013 können Redakteure damit Beiträge und Ergänzungen auszeichnen. Damit hätten sie zum ersten Mal ein Werkzeug an der Hand, um ein eindeutig positives Feedback zu geben, sagt Steven Walling vom Team "Wachstum". Dem ging es vor allem darum, Wikipedia-Neu-Redakteuren die Arbeit leichter zu machen und die Einstiegshürde zu senken.

Eine weitere Idee ist, Neulingen Vorschläge zu unterbreiten, woran sie zuerst arbeiten könnten. Um ihnen Selbstvertrauen zu geben, sollen sie anfangs einfache Aufgaben übernehmen, etwa Artikel lektorieren. So laufen sie nicht Gefahr, gleich beim ersten Versuch eine Regel zu verletzen und die Härte der Wikipedianer zu spüren zu bekommen. Solche Änderungsvorschläge mögen nebensächlich wirken, doch zu größeren Anpassungen kann die Wikimedia Foundation die Redakteure nicht bewegen.

Wie empfindlich die auf Veränderungen reagiert, zeigt das Beispiel Visual Editor. Neulinge tun sich oft schwer mit den Formatierungen in Wikitext. So werden Links durch eckige Klammern gekennzeichnet oder Verweise auf Bücher mit der Anweisung {{cite book title=...}}. Visual Editor ermöglicht dagegen ein Arbeiten wie mit bekannten Schreibprogrammen, ohne Wikitext-Formatierungen benutzen zu müssen. Im Juli 2013 wurde Visual Editor erst testweise eingeführt, dann zur Standardeinstellung. Doch die Wikipedianer rebellierten. Die Software enthalte Fehler, hieß es. Im September 2013 knickte die Stiftung schließlich ein: Wikitext wurde wieder zur Standardeingabe, Visual Editor in den Hintergrund verbannt. Jeder Mitarbeiter, der es nutzen will, muss es erst in seinen Konto-Einstellungen aktivieren – was nur wenige tun.

Der Ire Oliver Moran, Wikipedianer seit 2004 und inzwischen Administrator der englischen Ausgabe, verteidigt den Widerstand der Redakteure. "Ich glaube nicht, dass dies die Lösung ist, nach der die Stiftung sucht." Auf Twitter würden die Nutzer auch lernen, wie man das @-Zeichen oder den Hashtag # einsetzt. Moran und andere Alteingesessene wurmt vor allem, dass die Stiftung versucht hat, sich über das Kollektiv hinwegzusetzen. Das eigentliche Problem sieht er im "ausufernden Regelwerk", das sich um Richtlinien für neue Beiträge herausgebildet hat. Allein die Erklärung, warum Artikel von einem "neutralen Standpunkt" aus zu verfassen sind – eine der fünf Säulen der Wikipedia –, ist fast 5000 Wörter lang.

Dass sich etwas ändern muss, ist auch alten Wikipedianern klar. Einige richteten im Juli 2012 die Seite WikiProject Editor Retention ein, um Ideen zu sammeln, wie man Neulinge motivieren und die Arbeitsatmosphäre verbessern könnte. Greifbares ist dabei nicht herausgekommen. Die Debatten drehen sich vor allem um Themen wie "Einschüchterung durch Administratoren" oder das "Irrenhaus", das Wikipedia geworden ist.

Trotz Redakteursschwund nimmt aber die Länge der Wikipedia-Artikel weiter zu – und damit die Arbeit der verbliebenen Wikipedianer. Eine Umfrage der Wikimedia Foundation 2011 unter 5200 Redakteuren ergab, dass die Hälfte täglich eine Stunde Arbeit in die Enzyklopädie, ein Fünftel gar drei und mehr Stunden investiert. Vandalismus werde zwar inzwischen per Software in Schach gehalten, sagt Aaron Halfaker. Aber anspruchsvollere Aufgaben – Artikel verbessern, erweitern und aktualisieren – werden immer schwieriger zu bewältigen. Auch die Lobbyisten schlafen nicht: Mithilfe Dutzender unterschiedlicher Accounts manipulieren PR-Profis oder Unternehmens-Pressestellen Einträge mittlerweile so geschickt, dass selbst Administratoren den Betrug nicht oder nur sehr schwer aufdecken können. Mitunter schmuggeln sich die PR-Schreiber sogar selbst unter die Administratoren, wie das Fernsehmagazin "Monitor" enthüllte.

Dass die Qualität abnehme, sieht Mitgründer Jimmy Wales jedoch nicht. Damit sie zunehme, brauche es vielfältige Redakteure. "Der Artikel über den USB-Standard etwa ist beeindruckend", sagt Wales. "Aber Einträge zur Soziologie oder zu Dichtern des Elisabethanischen Zeitalters sind ziemlich dürftig." Es bräuchte "Geeks, die keine Computer-Geeks sind". Einer solchen personellen Auffrischung stehen auch kulturelle Trends entgegen. Das Online-Leben habe sich von offenen, selbstregulierten Communities weg entwickelt, sagt Clay Shirky, Professor an der New York University.

Das Netz von heute dominieren Facebook oder Twitter, deren Nutzer egozentrisch unterwegs sind. Bei Facebook gehe es eher darum, Inhalte zusammenzuführen, als zusammen an ihnen zu arbeiten, sagt Shirky, der die Foundation berät. Auch für Sue Gardner ist das Web von heute für kollektive, selbstorganisierte Ansätze nicht förderlich. Es sei wie eine Stadt, die kaum noch öffentliche Parks habe. "Wir verbringen unsere Zeit in immer kleineren Räumen auf immer größeren Unternehmens-Webseiten", kritisiert sie. "Wir brauchen mehr öffentlichen Raum im Netz."

Wird einer der letzten öffentlichen Parks erhalten bleiben? Vielleicht war das Ziel, alles menschliche Wissen zusammenzutragen und zu demokratisieren, zu ambitioniert für eine Schar von Nutzern, die sich nicht kennen. Trotzdem hat der Schwarm etwas Einmaliges geschaffen. Die Wikipedia – mit all ihren Schwächen, mittelmäßiger Qualität und mangelnder Diversität – könnte die beste Enzyklopädie sein, die wir haben können.

Mitarbeit: Niels Boeing (bsc)