Schwarm in der Sackgasse

Die Menge der Artikel bei Wikipedia wächst weiterhin rasant, aber die Zahl der freiwilligen Mitarbeiter sinkt. Erstickt das Projekt an seiner überbordenden Bürokratie?

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Tom Simonite
Inhaltsverzeichnis

Die Menge der Artikel bei Wikipedia wächst weiterhin rasant, aber die Zahl der freiwilligen Mitarbeiter sinkt. Erstickt das Projekt an seiner überbordenden Bürokratie?

Unter den Top 10 der meistbesuchten Websites der Welt sticht die Nr. 6 heraus. Sie wird nicht von einem gewieften Unternehmen betrieben, sondern von einem namenlosen Kollektiv. Sie versucht nicht, mit immer neuen Funktionen noch mehr Besucher anzulocken. Im Gegenteil, ihr Design hat sich seit Jahren nicht verändert. Und doch werden monatlich ihre Seiten milliardenfach aufgerufen. Die Rede ist, der Leser ahnt es bereits, von der Wikipedia. Eine einzigartige Enzyklopädie, die heute zu den Grundfesten des Wissensschatzes der Menschheit gehört. Selbst Suchmaschinen wie Google oder Software-Assistenten wie Siri auf den iPhones von Apple stützen sich maßgeblich auf sie.

Die Wikipedia ist eine der großen Erfolgsgeschichten des Internet-Zeitalters. Sie hat kommerzielle Konkurrenten aus dem Feld geschlagen: Microsoft versuchte es mit einer eigenen Enzyklopädie namens Encarta – und schloss sie 2009. Auch die altehrwürdige Encyclopædia Britannica, die seit 2010 nur noch in digitaler Form erscheint, hat kaum eine Chance: Sie bringt es bis heute nur auf 120000 Artikel, auf die zuzugreifen auch noch 79,95 Euro Jahresgebühr kostet – während die Wikipedia allein 4,4 Millionen englische Artikel enthält. Hinzu kommen 26,4 Millionen Einträge in 286 anderen Sprachen.

Und doch ist das Projekt, das sich zum Ziel gesetzt hat, "die Summe allen menschlichen Wissens zusammenzutragen", in großen Schwierigkeiten. Das Heer der zigtausend ehrenamtlichen Redakteure ist seit 2007 um ein Drittel geschrumpft – und schrumpft weiter. Die verbliebenen Zuarbeiter mühen sich redlich, die freie Enzyklopädie von Vandalismus, Täuschungen und Manipulation freizuhalten.

Ihr Einsatz kann indes nicht verhindern, dass die Wikipedia längst auch inhaltlich zu kämpfen hat: Da gibt es ausführliche Einträge über die Computerspiel-Wesen Pokémon oder weibliche Pornostars, während Seiten über bekannte Schriftstellerinnen oder das Afrika südlich der Sahara kaum über rudimentäre Informationen hinauskommen. Von den 1000 Artikeln, die das Redaktionskollektiv als essenziell für eine gute Enzyklopädie auflistet, erfüllen viele nicht die hauseigenen Ansprüche hinsichtlich sprachlicher und inhaltlicher Qualität an einen durchschnittlichen Artikel.

Verwundern sollte das nicht. Denn in der Besonderheit der Wikipedia – von einem Kollektiv ohne Chefs betreut zu werden – liegt auch der Grund für ihre derzeitige Situation. Die ist so problematisch, dass die Wikimedia Foundation eine Rettungsmission eingeleitet hat. Die 187-köpfige Nonprofit-Organisation, die den Betrieb rechtlich und finanziell sichert, fordert die Redakteursgemeinde zwar nicht auf, anders zu arbeiten – das wäre unmöglich. Die Stiftung versucht statt- dessen, die Enzyklopädie über das Design der Website und die zugrunde liegende Software zu verbessern.

Das ist auch nötig: "Alles, was die Wikipedia ausmacht, war 2001 auf der Höhe der Zeit, aber nun ist sie zunehmend veraltet", sagt Sue Gardner, bis Ende 2013 Direktorin der Wikimedia Foundation. Mit Wikipedia-Gründer Jimmy Wales ist sie sich darin einig, dass das Projekt dringend neue Mitstreiter braucht. "Unsere größte Baustelle ist die Vielfalt der Redaktion", sagt Wales und hofft, die Zahl der Redakteure in den Bereichen zu steigern, die dringend ausgebaut werden müssen. Um dieses Problem zu verstehen, ist ein Blick zurück nötig.

Als Jimmy Wales, der zuvor als Börsenmakler gearbeitet hatte, 2001 gemeinsam mit dem frisch promovierten Philosophen Larry Sanger die Wikipedia startete, war sie nicht mehr als ein Hilfsprojekt. Wales' eigentlicher Ehrgeiz galt der Nupedia, einer kostenlosen Online-Enzyklopädie, die nach dem Vorbild der Britannica von Experten erstellt werden sollte. Die aber kamen nicht vom Fleck: Ein Jahr nach dem Start hatten sie ganze 13 Artikel zustande gebracht, einer davon über den römischen Dichter Vergil. Sanger und Wales wollten nun – gewissermaßen in einer frühen Version des Crowdsourcing – die Massen als Zuarbeiter nutzen. Die Experten könnten dann ja den Wikipedia-Einträgen der Laien den letzten Schliff geben und sie in die Nupedia übernehmen – so der Plan.

Als sie jedoch sahen, wie begeistert die Wikipedia aufgenommen wurde, machten sie diese schnell zum Projekt Nr. 1. Am Ende ihres ersten Jahres waren bereits 20000 Artikel in 18 Sprachen zusammengekommen. Das Wachstum war so rasant, dass Wales schon 2003 die Wikimedia Foundation gründete, um die Server zu betreiben und sich um eine Finanzierung zu kümmern. Die inhaltliche Hoheit verblieb jedoch bei den "Wikipedianern", die ohne jegliche Führung ihre Arbeitsabläufe und Qualitätskriterien selbst entwickelten. Das einzige Element einer Hierarchie war die kleine Gruppe der "Administratoren", die das Recht hatten, Artikel zu löschen oder Redakteure vorübergehend zu sperren.

Viele Zeitgenossen hielten das Projekt zunächst für lächerlich oder gar schockierend. Auf der einen Seite war die Wikipedia erkennbar dem rationalen Geist der Aufklärung verpflichtet, gesichertes Wissen zusammenzutragen. Auf der anderen Seite verweigerte sie sich allen Organisationsformen, mit denen seit Jahrhunderten Wissensbestände verwaltet werden. Kein Rat von Weisen oder Experten, die Redakteure berufen hätten, keine zentrale Planung der Inhalte. Stattdessen können selbst Beiträge von ausgewiesenen Experten binnen Minuten wieder überschrieben werden.

Die entscheidende Veränderung kam 2006, als die englische Wikipedia an der Schwelle zu einer Million Artikeln stand. Dank zahlreicher Medienberichte war der Zuwachs nun so rasant, dass die Redakteure kaum noch hinterherkamen, neue Ein- träge zu überprüfen. Unter denen war jede Menge Unsinn, der Vandalismus blühte. Und auch Konzerne, PR-Agenturen und Ideologen versuchten und versuchen stets, ihre Botschaften in der Online-Enzyklopädie unterzubringen.

Die etablierten Wikipedianer merkten, dass ihnen das Projekt zu entgleiten drohte – und reagierten. Sie führten neue Software-Funktionen und Editier-Prozeduren ein. Redakteure konnten sich nun anzeigen lassen, wo Änderungen vorgenommen worden waren – und sie mit einem Klick annehmen oder ablehnen. Sie setzten Bot-Software ein, um falsche Formatierungen im zugrunde liegenden "Wikitext" automatisch zu korrigieren.

Die Maßnahmen griffen, die grobe Manipulation von Einträgen ging bald zurück, die Qualität stieg. Doch der Erfolg hatte seinen Preis: Neulinge, die in ihren ersten Artikeln unweigerlich Fehler machten und von der Editier-Bürokratie abgemahnt wurden, waren rasch entmutigt. Sie gaben ihre Mitarbeit in Scharen wieder auf: Hatte die englische Wikipedia im Jahr 2007 noch 51000 Zuarbeiter, waren es 2013 nur noch 31000. "Die Phase seit 2007 bezeichne ich als den Abstieg der Wikipedia. Sie stranguliert sich offenbar selbst", kommentiert Aaron Halfaker, der im vergangenen Jahr für die Wikimedia Foundation die bislang umfangreichste Studie der Misere erstellt hat.