Netto-Null-Emissionen: Studie zeigt beste Optionen

Erneuerbare Energien, Biomasseverbrennung mit CO₂-Speicherung oder Kernkraft: Eine Modellstudie versucht die besten Optionen aufzuzeigen.

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(Bild: Erstellt mit Midjourney durch MIT Technology Review)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Hanns-J. Neubert
Inhaltsverzeichnis

Nur noch 27 Jahre, dann will Europa klimaneutral sein. Doch wie das gehen soll ist bisher völlig unklar.

Einen gangbaren Weg versucht eine Studie in der Zeitschrift Joule aufzeigen. Die Autoren koppelten sieben völlig unterschiedliche energieökonomische, aber etablierte Modelle, um herauszufinden, wie die EU es realistisch schaffen könnte, bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen. Wissenschaftlich ein ehrgeiziges Unterfangen, aber andere Experten sind nicht überzeugt.

Als Ergebnis dieser Ensemble-Modellierung steht für die Studienautoren fest. Der Energiesektor muss bis 2040 fast komplett dekarbonisiert sein. Und schon bis 2030 sollte ein Drittel des Endenergieverbrauchs durch Strom gedeckt sein. Bisher sind es erst rund 20 Prozent, wie die für 2022 ausrechnete.

Auf dem Weg zu Netto-Null-Emissionen prognostiziert das Meta-Modell für 2040 immerhin CO₂-Emissionsminderungen von um die 97 Prozent in denjenigen Sektoren, die dem Emissionshandelssystem (ETS) unterliegen. Emissionen, die der Lastenteilungsverordnung (Effort Sharing Regulation ESR) unterliegen, dürften sich bis dahin um etwa 53 Prozent verringert haben.

Im ETS müssen Unternehmen am Ende des Jahres CO₂-Zertifikate vorweisen, die ihrem CO₂-Ausstoß entsprechen. Überschüssige Zertifikaten lassen an einer Börse handeln.

Die ESR schreibt dagegen vor, Emissionen aus Verkehr, Gebäuden und Abfall, die nicht dem ETS unterworfen sind, entsprechend dem Bruttoinlandsprodukt pro Person auf die Mitgliedsländer zu verteilen. Neben Kohlenstoffdioxid schließt diese Regelung auch Methan, Lachgas, Fluorkohlenwasserstoffe, Stickstofftrifluorid und Schwefelhexafluorid ein.

Die EU geht davon aus, dass sich bis 2030 mindestens 40 Prozent des Stroms aus Sonne und Wind erzeugen lässt. Würde das erreicht, dann, so die Studie, würden 2050 dennoch nur 75 bis 90 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Quellen stammen. Also muss noch mehr passieren, um vollständig klimaneutral zu werden. Hier bringen die Modellierer zwei umstrittene Techniken ins Spiel: Biomasse und Kernkraft.

Aus Biomasse lässt sich das CO₂ bei der Verbrennung abscheiden und irgendwo unterirdisch lagern. Es würde dann als negative Emissionen in die Treibhausgasbilanz eingeht. Doch steckt diese BECCS genannte Technik noch in den Kinderschuhen. Dennoch messen die Studienautoren ihr eine große Bedeutung zu und halten es für sinnvoll, BECCS-Anlagen ab 2040 in großem Maßstab aufzubauen.

Für Jochen Linßen vom Institut für Techno-ökonomische Systemanalyse am Forschungszentrum Jülich ist BECCS durchaus eine kosteneffiziente Maßnahme für negative Emissionen. Allerdings: "Das nachhaltige Biomassepotenzial muss dabei im Auge behalten werden und eine CO₂-Infrastruktur mit Speicherung in der EU geschaffen sein."

Patrick Jochem vom Institut für Vernetzte Energiesysteme am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt ist da nicht so überzeugt: "Die Fokussierung auf BECCS als die einzige veritable Carbon-Dioxide-Removal-Technologie scheint etwas einseitig zu sein - insbesondere im Hinblick auf die großen Unsicherheiten der techno-ökonomischen Parameter dieser Technologien."

Kritisch auch Gunnar Luderer, Leiter der Arbeitsgruppe Energiesysteme am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung: "Ich halte die Ergebnisse der Studie für viel zu optimistisch in Bezug auf die mittelfristige Geschwindigkeit, mit der Biomasse und CCS in den Markt gebracht werden können. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass CCS-Projekte ziemlich teuer sind, einen langen Planungsvorlauf brauchen und oft scheitern."

Beim Thema Kernenergie sind die Studienautoren mit Vorschlägen recht zurückhaltend. Sie weisen nur darauf hin, dass die Kombination der genutzten Modelle auf eine größere Bedeutung von Atomkraft hinweisen.

Luderer kann nach eigener Analyse der Studienergebnisse nur schwer einen eindeutigen Trend zur Kernenergie erkennen: "Ich halte einen steigenden Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung aufgrund der hohen Kosten und langen Planungshorizonte für hochgradig unplausibel. Die für die Klimaneutralität benötigte sehr schnelle Dekarbonisierung der Stromerzeugung wird zum allergrößten Teil durch Erneuerbare Energien erreicht werden." Kosten dürfte der Weg in die Klimaneutralität rund 2,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU, wobei zukünftige Rohstoffengpässe und Krisen natürlich nicht eingerechnet sind.

Das hätte Auswirkungen auf das Bruttoinlandsprodukt, so die Autoren. Das würde sich bis 2050 in einem Bereich von minus 20 bis plus 2 Prozent entwickeln. "Das ist eine enorme Spannbreite", findet Johannes Emmerling vom European Institute on Economics and the Environment in Mailand. "Für Akteure in der Politik ist das wenig aussagekräftig. Insbesondere die Annahme, dass das Bruttoinlandsprodukt um 20 Prozent sinkt, erscheint sehr extrem. Denn beispielsweise verglichen mit den stark gestiegenen Energiepreisen im Zuge des Ukraine-Kriegs waren die realen Auswirkungen auf das Bruttoinlandsprodukt vergleichsweise gering."

Noch viel kritischer sieht Linßen die Studie: "Aus dem Artikel wird nicht ersichtlich, wie eine flexible Stromerzeugung, Speicherung und Nachfrageflexibilität in verschiedenen EU-Lande sowie der Stromtransport zwischen den Ländern berücksichtigt wird." Auch würde der Import von fossilen und grünen Energieträgern, wie E-Fuels und Wasserstoff, in die EU nicht erwähnt und es bleibe unklar, ob diese Option überhaupt in den Modellen hinterlegt sei.

Aber so eine Ensemble-Modellstudie hat auch ihr Gutes. Einzelmodelle gehen zwar von unterschiedlichen Grundannahmen und technologischen Möglichkeiten aus, ihre Koppelung hat dennoch Vorteile, findet Daniela Thrän vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung: "Damit wird der Möglichkeitsraum gegenüber einer einzelnen Modellbetrachtung nicht nur erweitert, sondern es ist auch zu erkennen, wo die Handlungsoptionen mit hoher Wahrscheinlichkeit kostenoptimal sind."

(bsc)