In welchen Stufen sich Verschwörungen auf Social Media verbreiten

Ein Forscherteam hat die Radikalisierung auf Facebook und Co. untersucht. Ganz verloren seien die sozialen Medien aber noch nicht.

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Person hält Handy auf dem Facebook zu sehen ist. Im Hintergrund ist ein Fußballfeld zu sehen.

(Bild: I'm friday/Shutterstock.com)

Lesezeit: 3 Min.

Beim Hashtag #pizzagate im Jahr 2016 ging es offenbar recht schnell. Nur einen Monat hatte es gedauert, bis die auf Social Media verbreitete Verschwörung einen Mann in den USA dazu veranlasste, bewaffnet in eine Pizzeria in Washington zu stürmen, um dort angeblich von Demokraten festgehaltene Kinder zu befreien. Wie genau sich Radikalisierung durch Verschwörungserzählungen auf sozialen Netzwerken aufbaut, das wollte die Informationswissenschaftlerin Christine Abdalla Mikhaeil wissen.

Sie ist Assistant Professor an der IESEG School of Management in Lille und forscht zu sozialen Medien. In ihrer Studie mit ihrem Kollegen Richard L. Baskerville hat sie das Phänomen der Radikalisierung genauer untersucht und in vier Stufen unterteilt. Ihrer Ansicht nach sorgen soziale Medien selbst dafür, dass problematische Haltungen verstärkt werden.

  • Stufe 1 (Bestätigung): Zunächst sucht man sich in sozialen Medien – aber auch in Foren und Presseorganen – Inhalte, die die eigene Haltung bestätigen.
  • Stufe 2 (Affirmation): Dann werden daraus Informationen selektiert (und andere aussortiert), die zu einer Affirmation der eigenen Einschätzung führen.
  • Stufe 3 (Informationsumgebung steuern): Schließlich schützt man diese dadurch gewonnene Identität, in dem man seine Informationsumgebung steuert, etwa Gegenargumente oder Personen, von denen diese kommen, diskreditiert oder ausblendet.
  • Stufe 4 (Inszenierung): Schließlich kommt es zu einem "identity enactment", also eine Inszenierung der so gewonnenen Identität.

Im letzten Schritt kommt es auch zur Sichtbarmachung gegenüber anderen und der Rekrutierung von Anhängern. "Diese Phasen bilden eine spiralförmige Schleife, die eine gemeinsame konspirative soziale Identität stärkt und eine potenzielle Eskalation bis hin zur Radikalisierung ermöglicht", schreibt die Forscherin.

Es handele sich aber um ein komplexes und vielschichtiges Phänomen, dass man nicht schwarz oder weiß sehen könne, sagt Abdalla Mikhaeil gegenüber MIT Technology Review. "Wir haben erschreckende Beispiele wie Pizzagate oder den Sturm auf das Kapitol am 6. Januar, aber wir haben auch großartige Beispiele für Solidarität und Emanzipation im Netz." Extreme Fälle offenbarten tiefer liegende gesellschaftliche Probleme wie Ausgrenzung, die durch die sozialen Medien auf das Schlimmste verstärkt werden könnten.

Auf die Frage, ob sich soziale Medien in ihrer jetzigen Form vielleicht schlicht nicht für die Menschen eignen, meint Abdalla Mikhaeil, das sei nicht der Fall. "Nein, denn diese sozialen Plattformen sind ohne die Menschen leblos." Man habe Anfang der 2010er-Jahre in verschiedenen sozialen Bewegungen im Netz "das Beste an Empowerment, Solidarität und Emanzipation" erlebt. Als Beispiel nennt sie Online-Mobilisierungen nach den Überschwemmungen in Thailand 2011 oder den Terroranschlägen von Mumbai 2008. "Soziale Medien sind das, was wir aus ihnen machen." Und deshalb sei eben die Erziehung zur Entwicklung der richtigen Medienkompetenz sowie des analytischen und kritischen Denkens ein wichtiger Eckpfeiler.

Bleibt das Thema Regulierung. Auf das gehen die Forscher in ihrem Paper zwar nicht ein, doch Abdalla Mikhaeil hält sie für wichtig. "Soziale Medienplattformen müssen eine Rolle bei ihrer Governance und ihrer Politik der Moderation von Inhalten spielen. Eine Regulierung durch den Staat wäre die einzige Möglichkeit, sie dazu zu zwingen." Aber es liege eben an den Menschen und einer Lobby aus Bürgern, Druck auf die richtigen Institutionen auszuüben, damit sie etwas ändern.

(bsc)