Stimmung aus der Retorte

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Dabei sucht der geniale Molekülzauberer vor allem die Antwort auf eine Frage: Wie kann es sein, dass eine kleine Veränderung, etwa das Entfernen eines C-Atoms, aus einem stark anregenden Mittel ein halluzinogenes macht? "Und knipst man noch etwas ab, entsteht etwas, das dein Hirn zu Brei schießt", sagt Shulgin. "Bis heute kann das keiner erklären."

Shulgin arbeitet mit den US-Drogenbehörden zusammen. Der Deal: Er darf synthetisieren, was er möchte, darf es einmal persönlich ausprobieren – und dann kommt es in den Giftschrank. Allerdings kann niemand den alten Herrn daran hindern, seine Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Und das tut der überzeugte Substanzdemokrat nicht nur in Fachblättern – seine beiden online verfügbaren Bücher zum Nachkochen heißen: "Pihkal" und "Tihkal" – "Phenylethylamines I have known and loved" und "Tryptamines I have known and loved".

Auch Shulgins Tryptamine, Verwandte des Schlafhormons Melatonin, tauchen nun immer öfter wieder in der EU auf. Der alte Meister scheint viele Leser zu haben. Vielleicht machen sie es genau wie er? 2004 war im "Playboy" nachzulesen, dass Shulgin sich als Ausgangsstoff den Hirnbotenstoff Serotonin kommen lässt, von einem japanischen Chemikalienhandel, "für acht Dollar pro Gramm". Dann brauche er Trockeneis, Säuren, Basen "und eine Myriade verzwickter Techniken".

Im Internet tummeln sich nicht nur gut ausgebildete Chemiker, die diese Techniken ebenfalls beherrschen. Dort scheinen auch Geister ähnlich kreativ wie der alte kalifornische Meister unterwegs zu sein, die nicht nur nachkochen, sondern selbst neu erfinden: So interviewte das Online-Szene-Magazin "Vice" einen Biochemiker namens "M.", der neben seinem regulären Unijob für eine ganz neue Klasse von Angel-Dust-Abkömmlingen aus seinem Heimlabor verantwortlich zeichnen soll. Die Substanzen gibt es wirklich: Die neuen Ketaminderivate stammen nicht aus der offiziellen, publizierten Wissenschaft. Und sie sind ganz offensichtlich auf die Bedürfnisse künftiger Junkies zugeschnitten. Stärker und zugleich nebenwirkungsärmer als ihre Vorgänger – und mit derzeitigen Standardtests nicht nachzuweisen.

Drogenwächter sind weltweit alarmiert. Besondere Besorgnis erregt für Ingo Kipke von der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht, wie flexibel die Drogen-Community schon auf die bloße Ahnung eines Störfeuers von Seiten der Justiz reagieren kann. Etwa die Nachricht von einem neuen Nachweis für dieses oder jenes Molekül oder eines Verbotsverfahrens: Binnen Tagen wird das Sortiment auf neue, den Ermittlern noch unbekannte Substanzen umgestellt.

"Im Grunde haben Fahnder da gar keine Chance", sagt der Drogenbeobachter. "Die neuen Stoffe sind so wirksam und werden so hochrein produziert, dass es reicht, ein einziges Kilo zu importieren, um eine ganze Stadt zu versorgen." So kleine Mengen können per Post verschickt werden, im Necessaire von Flugzeugpassagieren reisen oder sich einfach per Handschuhfach oder Satteltasche über die Welt verteilen. Von den Online-Händlern werden die Pulver dann verdünnt und im Netz angeboten. Das Endprodukt reicht, um die Hundertschaften der Internetkunden per Post zu versorgen. Wenn einmal ein Shop hochgenommen wird, dann müssen sich die Fahnder Dolmetscher kommen lassen: Die meisten Substanzfläschchen sind in Chinesisch oder Russisch beschriftet.

Das europäische Frühwarnsystem verlässt sich nicht mehr nur auf Zufallsfunde der Fahnder, sondern baut auf ein eigenes Netz von Wissenschaftlern, die ganz neue Methoden fürs Drogenmonitoring verwenden. Besonders vielversprechend: die Abwasseranalyse. Neue Verfahren machen es möglich, selbst winzigste Substanzkonzentrationen im Nanobereich aufzuspüren. Milliardstel Gramm pro Liter – fein genug, um den Drogenverbrauch von Großstädten, von Stadtvierteln oder sogar von einzelnen Häusern zu ermitteln. So wie bei dem Club in Soho.

An der Medizinischen Hochschule St. George's in London hat sich der Toxikologe John Ramsey auf dieses Feld spezialisiert. Für Polizeibehörden und Krankenhäuser betreibt er ein kommerzielles Drogensubstanzregister, das den Anspruch erhebt, immer auf dem neuesten Stand zu sein. Deshalb fischt Ramsey auch in den Containerklos von Musikfestivals nach bislang unbekannten Psychostoffen. Was er da findet, nennt er sarkastisch "Buchstabensuppe". Die meisten seiner Findlinge sind nämlich pharmakologisch beängstigend unbeschriebene Blätter, wissenschaftliche Erfahrungen über die Wirkung auf Menschen fehlen. Deswegen haben sie auch keinen gebräuchlichen Wirkstoffnamen, sondern nur die praktischen Laborabkürzungen: Buchstaben- und Zahlencodes, wie sie Pharmakologen an Universitäten und in der Industrie benutzen, die sich allein von jenen potenziellen Heilmitteln, die den Stoffwechsel im Gehirn verändern, Hunderte neue pro Jahr einfallen lassen. Die meisten versagen schon bei ersten Mäuseversuchen und leben dann nur noch als Karteileichen in der chemischen Literatur fort. Bis sie einer der kreativen Nachkocher aus der Schattenindustrie wieder ausgräbt. Ein unerschöpflicher Fundus.

Einer dieser chemischen Wiedergänger ist MDPV – Methylendioxypyrovaleron, Straßenname: Black Rob. Chemisch ist das stark euphorisierende Mittel das Kind zweier prominenter Eltern, der Kaudroge Kath und des Ecstasy-Stoffes MDMA. Der Wirkstoff war als Nachfolger des Medikaments Ritalin gedacht, das als Mittel gegen Hyperaktivität bei Kindern traurige Berühmtheit erlangte, doch er versagte. Zurzeit fällt MDPV europaweit vor allem in den Blutproben von Drogentoten auf. Sie hatten sich das vanillezuckerweiße Pulver aus dem Internet besorgt und geschnupft.

Das Vermarktungsargument der Verkäufer: Das seien "Legal Highs", legale Alternativen zu illegalen Drogen, zu Cannabis, Speed oder Kokain. Legal allerdings nur deshalb, weil diese Stoffe bei ihrem Debüt tatsächlich nicht den Drogengesetzen der Länder wie etwa dem deutschen Betäubungsmittelgesetz unterworfen sind. Stattdessen zuständig: die Arzneimittelgesetze. Theoretisch. Denn auch wenn die Kunden genau wissen, dass die Ersatzdrogen eigentlich zum Schlucken, Rauchen oder Schnupfen produziert sind – offiziell werden die Pulver und Tabletten gar nicht für die Anwendung am Menschen verkauft. Stattdessen sind sie als "Badesalz", "Dünger" oder "Forschungschemikalien" deklariert und tragen auf der Verpackung eine ausdrückliche Verzehrwarnung. Dagegen rechtlich mit dem Arzneimittelgesetz vorzugehen, hätte ungefähr dieselbe Wirkung, wie einen Supermarkt wegen des Verkaufs von Klebstoff zu belangen, weil Kunden ihn als Schnüffeldroge missbrauchen. Also muss jede einzelne neue Droge erst populär werden und ihr gefährliches zweites Gesicht messbar offenbaren, um dann aufgrund des Gesundheitsrisikos ordentlich verboten werden zu können.

Den inzwischen unübersehbar langen Reigen der Legal Highs eröffnete BZP – Benzylpiperazin. Es kam Anfang 2000 aus Neuseeland als "sichererer" Ersatzstoff für das angstlösende Aufputschmittel "Crystal Meth" in die Londoner Clubs. Die- ser Stoff war schon im Zweiten Weltkrieg als Ingredienz der "Fliegerschokolade" bei den Piloten der deutschen Wehrmacht sehr beliebt.