Bewusstseinsforschung: Trip aus dem Computer

Ergebnisse der Bewusstseinsforschung, virtuelle Realität und Computermodelle ermöglichen einen neuen Blick auf Meditation und Achtsamkeitsübungen.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 1 Kommentar lesen

Technischer Trip: In der Dream Machine liegen die Teilnehmenden mit geschlossenen Augen. Stroboskop-Lichter wechselnder Frequenz erzeugen vor ihrem inneren Auge bunte, geometrische Strukturen.

(Bild: David Levene)

Lesezeit: 4 Min.
Inhaltsverzeichnis

Nicht erst seit die "Weltuntergangsuhr", die Doomsday Clock der Organisation "Bulletin of the Atomic Scientists" auf 90 Sekunden vor Mitternacht steht, versuchen immer mehr Menschen sich mit Entspannungs-, Achtsamkeit- und Meditationstechniken zu beruhigen. Oft in Verbindung mit Esoterik und Spiritualität in Verbindung gebracht, unterzieht MIT Technology Review diese Techniken in seiner neusten Ausgabe 2/2023 einem Rationalitäts-Check: Was passiert mit unserem Bewusstsein, wenn wir meditieren? Kommt es in andere Bewusstseinszustände? Was ist das eigentlich, dieses Bewusstsein?

Für den britischen Bewusstseinsforscher Anil Seth beispielsweise – und mit ihm einer wachsenden Zahl von Forschenden – liegt der Schlüssel zum Verständnis des Bewusstseins in der Wahrnehmung: Demnach sei Wahrnehmung kein passiver Prozess, bei dem Informationen von den Sinnesorganen von außen zum Gehirn geleitet und dort verarbeitet und interpretiert werden. Vielmehr laufe der Prozess in beide Richtungen: Das Gehirn produziert Hypothesen über Muster in den Sinnesdaten. Die gleicht es andauernd mit den Wahrnehmungen der Sinnesorgane ab und passt seine Hypothesen an. Dabei wird die Differenz zwischen dem Modell, das das Gehirn entwickelt, und den Sinnesdaten minimiert (Predictive Processing).

Das Modell weist Ähnlichkeiten zu Autoencodern auf. Das sind künstliche neuronale Netze, die selbstständig lernen, wesentliche Eigenschaften ihrer Trainingsdaten zu erkennen und sie in einer kompakten, abstrahierten Form abzuspeichern. Die Welt, die wir subjektiv wahrnehmen, enthält also immer etwas von dem Modell, das wir uns von ihr machen. Deswegen sehen wir manchmal Gesichter oder fantastische Wesen in Wolken – oder Monster in den Schatten. Und je mehr die Vorhersage-Modelle des Gehirns die Überhand gewinnen – bei psychischen Störungen oder unter dem Einfluss psychedelischer Drogen etwa –, desto mehr verzerren und verbiegen sie unsere Wahrnehmungen.

MIT Technology Review 2/2023

Krieg, Klimakrise und persönliche Konflikte - da ist es auch wichtig, auf sich selbst zu achten. Daher schauen wir in der neuen Ausgabe, wie wir mittels Technologie achtsamer und resilienter werden können. Das neue Heft ist ab dem 9.2. im Handel und ab dem 8.2. bequem im heise shop bestellbar. Highlights aus dem Heft:

Um diesen Effekt zu illustrieren, entwarf Keizo Suzuki gemeinsam mit Seth eine Computersimulation: die Hallucination Machine. Das System gibt das Video eines Spazierganges auf dem Campus auf einem VR-Headset aus. Allerdings durchläuft jedes einzelne Videobild zwischendurch einen modifizierten Deep-Dream-Algorithmus. Grob gesagt verstärkt und visualisiert das den Effekt, den wir erleben, wenn wir Gesichter in Schatten oder Wolken sehen. Ein Trip ohne Drogen.

Letztendlich ist, nach dieser Theorie, auch die Selbstwahrnehmung eine Mischung aus einem internen Selbstmodell und Sinnesdaten. Meditation und Achtsamkeit, sagt Seth. Sie fördere die Erkenntnis, dass das Selbst unbeständig sei. "Es verändert sich ständig. Es ist kein Ding, es ist auch eine Form der Wahrnehmung, eine Art Konstruktion des Gehirns, um sein Verhalten in der Welt zu organisieren."

Das könnte erklären, warum die Selbstwahrnehmung sich ändert, wenn Forschende in VR-Umgebungen mit dem Zeitempfinden ihrer Probanden spielen und weshalb das Ängste löst und Wahnvorstellungen lindert. Es könnte auch erklären, warum der Isolationstank, der scheinbar die Außengrenze des Körpers auflöst und den Treibenden ganz auf seine Innenwahrnehmung reduziert, zu meditationsähnlichen Zuständen führt. Oder warum eine "Out-of-Body-Experience" in VR, das Gefühl, nicht mehr im eigenen Körper zu sein, die Angst vor der eigenen Sterblichkeit lindert, wie Pierre Bourdin und Kollegen von der Universität Barcelona 2017 festgestellt haben – allerdings nur mit einer sehr kleinen Gruppe von Menschen.

(wst)