Verdammt seltsam

Die merkwürdigen Phänomene der Quantenmechanik könnten das Tor zu einer ganz neuen Welt öffnen. Die EU investiert daher eine Milliarde Euro in die Entwicklung von Quantentechnologie.

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Inhaltsverzeichnis

Mark Everett hat seinen Vater kaum gekannt. Hugh Everett III starb an einem Herzinfarkt, als Mark 19 Jahre alt war. Der verschlossene Kettenraucher, der zu Hause wenig sprach, der immer korrekt gekleidet am Tisch saß mit dunklem Anzug und Krawatte, hat versucht, eines der größten Rätsel der Quantenmechanik zu lösen – und ist wahrscheinlich daran zerbrochen. Gut 20 Jahre später steht Mark, mittlerweile ein erfolgreicher Rockmusiker, in Princeton und lässt sich dieses Rätsel vorführen. "Wow", sagt er schließlich leise. "Das ist es? Das haut mich wirklich um."

Wie unter einem Brennglas verdichtet die Szene in dem preisgekrönten Dokumentarfilm "Parallel Worlds, Parallel Lives" die persönliche Tragik Everetts: Der Mann hat gewissermaßen versucht, das Kleingedruckte in der Gebrauchsanleitung für das Universum zu entziffern – aber kaum jemand hat Notiz davon genommen. Nicht einmal sein Sohn wusste, welch grundlegende Fragen sein Vater bearbeitet hat. Was Mark Everett "umgehauen" hat, ist ein sogenanntes Doppelspalt-Experiment, in dem ein stark abgeschwächter Laser einzelne Photonen auf einen undurchsichtigen Schirm mit zwei Schlitzen schießt.

Eine Kamera hinter dem Schirm registriert, wo die Photonen auftreffen. Aber statt zwei heller Streifen registriert die Kamera hinter dem Schirm ein verschmiertes Muster mit einem hellen Fleck in der Mitte. Die Lichtteilchen verhalten sich wie Wellen – und zwar jedes einzelne von ihnen. Als ob jedes Photon an zwei Orten gleichzeitig wäre.

Die Quantenmechanik ist voll von solch paradoxen Effekten. Jahrelang diskutierten Physiker erbittert, wie sie zu erklären seien. Ende der 1920er- Jahre dann schloss sich die Mehrheit der Deutung des dänischen Physikers Niels Bohr an: Welchen Weg ein Photon genommen habe, könne man schlicht nicht beantworten. Erst wenn es auf den Schirm trifft und gemessen wird, sei eine wissenschaftliche Aussage darüber möglich. Die Diskussion war beendet. Nur Everett, der brillante Doktorand in Princeton, wollte das nicht akzeptieren. Für ihn entsprach jeder der Wege einer eigenen Realität, einem eigenen Universum. 1959 fuhr Everett entgegen dem Rat seines Doktorvaters gar nach Kopenhagen, um seine Theorie mit Niels Bohr persönlich zu diskutieren. Er konnte Bohr jedoch nicht überzeugen und wandte sich völlig von der Physik ab.

Dass Hugh Everett recht gehabt haben könnte, glaubt bis heute nur eine kleine Minderheit von Physikern. Aber heute, fast 60 Jahre später, stehen solche grundlegenden Fragen der Quantenphysik erneut auf der Tagesordnung. Weltweit arbeiten mehr und mehr Wissenschaftler ganz handfest mit seltsamen quantenmechanischen Effekten: Sie entwickeln Quantenchips, die hunderttausendmal schneller rechnen sollen als herkömmliche Computer, bauen Rechnernetze, die erstmals mathematisch beweisbar abhörsicher sind, oder forschen an Sensoren, die wesentlich empfindlicher sind als alles, was bisher gebaut werden kann. Die EU findet die Möglichkeiten der Quantenmechanik derart bestechend, dass sie in den kommenden zehn Jahren insgesamt eine Milliarde Euro an Fördergeld in das Feld investieren will.

TR 11/2017

(Bild: 

Technology Review 11/2017

)

Dieser Artikel stammt aus der neuen November-Ausgabe von Technology Review. Das Heft ist seit 12. Oktober im Handel erhältlich und im heise shop bestellbar.

Nur die Industrie, der die Quantenmechanik neue Märkte erschließen soll, hält sich zurück. "Wenn Sie eine komplett neue Industrie darauf aufbauen wollen, brauchen Sie einen Markt. Doch die potenziellen Kunden trauen sich nicht", sagt Nicolas Gisin von der Universität Genf. Gemeinsam mit Kollegen hat Gisin Id Quantique gegründet, eines der ersten zivilen Unternehmen, das Quantenkryptografie vermarktet – abhörsichere Kommunikation auf Basis von Quanteneffekten. "Menschen, die Quantentheorie verwirrend finden, neigen dazu, einer Technologie, die auf dieser Art von Physik beruht, nicht zu vertrauen", sagt Gisin. "Sie haben den Verdacht, dass diese Technologie auf einer Art Magie beruhen müsse, und sind skeptisch."

Was macht dieses "magische" Verhalten nun aus? Generell beschreiben Physiker das Verhalten von "Systemen", indem sie ihren "Zustand" beschreiben. Der Zustand eines Systems – Ort, Masse und Geschwindigkeit eines Körpers – gibt Hinweis auf sein Verhalten in der Zukunft. Bei Quantensystemen wird die Beschreibung noch ein wenig abstrakter, solch ein System ist eine Art Black Box: Die Physiker sprechen zwar davon, dass ein System einen "Zustand einnimmt", ob es das getan hat, kann man aber nur sagen, indem man eine mit diesem Zustand verknüpfte beobachtbare Größen, sogenannte Observable, tatsächlich misst. Eine Quantenmünze etwa hätte zwei mögliche Zustände: den Kopfzustand und den Zahlzustand. In welchem Zustand die Münze sich tatsächlich befindet, wenn man sie wirft, kann man nicht sagen.

Alles, was man tun kann, ist zu messen, ob die Münze nach dem Wurf beispielsweise Kopf zeigt – was sie mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent auch tun wird. "Historisch gesehen sind wir daran gewöhnt, dass Wissenschaft uns eine viel bessere Antwort liefert", sagt Carlo Rovelli von der Universität Marseille. "Die klassische Physik hat uns nicht nur gesagt, was in einem bestimmten Moment passieren wird, sie hat uns auch erzählt, was zwischendurch passiert. Auch dann, wenn wir nicht nachsehen. Aber die Quantenmechanik sagt uns nichts darüber." Anders als eine echte Münze befindet sich der Zustand der Quantenmünze irgendwo dazwischen – in einer "Überlagerung" der beiden möglichen Basiszustände. Das klingt seltsam, aber genau solche Überlagerungen machen das Rechnen mit einem Quantencomputer erst möglich. Dadurch kann er gleichzeitig mit extrem vielen Input-Werten arbeiten.

Mindestens genauso rätselhaft ist die sogenannte "Verschränkung" von Quantensystemen. Erzeugt man zwei Quantensysteme, deren Zustände sich gegenseitig beeinflussen, und trennt diese Systeme dann voneinander, bleibt die gegenseitige Beeinflussung erhalten. Misst man nun die Eigenschaft eines der beiden, steht das Messergebnis im anderen System im selben Augenblick fest, auch wenn die eine Messung auf dem Jupiter und die andere auf der Erde stattfindet. "Das ist sehr verwirrend", sagt Nicolas Gisin. "Wenn ich Ihnen dieses Phänomen schildere, verstehen Sie die einzelnen Worte, und die Grammatik ist auch korrekt, aber was ich sage, ergibt genau genommen keinen Sinn." Dennoch existiert dieser Effekt – und bildet die Grundlage für das Kontinente übergreifende Quantennetz, das chinesische Forscher vor Kurzem realisiert haben.

Selbst die Experten behaupten nicht, alles verstanden zu haben. Seit 2013 diskutiert eine wachsende Zahl von Physikern im Rahmen der Tagung "Emergent Quantum Mechanics" über neue Antworten auf die beinahe hundert Jahre alten Fragen. Rovelli ist einer von ihnen. "Vielleicht ist die Quantenmechanik unvollständig", sagt er. "Vielleicht ist die Welt aber auch komplizierter, als unsere naive Interpretation uns bisher glauben ließ." Die Quantenmechanik könne etwa bedeuten, dass die Welt nicht aus Objekten besteht, sondern aus Prozessen und Interaktionen. "Die Realität besteht also daraus, wie Systeme sich gegenseitig beeinflussen", sagt Rovelli. "Was zwischendurch passiert? Das ist außerhalb dessen, was wir über die Welt sagen können."

Die Gefahr, sich bei diesen Diskussionen ins wissenschaftliche Aus zu schießen wie einst Hugh Everett, ist kleiner geworden, aber sie existiert noch immer. "Quantenmechaniker sind sehr oft der Auffassung, sie selbst hätten recht und alle anderen liegen daneben", sagt Rovelli. Viele junge Wissenschaftler schrecken daher davor zurück, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen. Dem Fortschritt des Feldes tut das nicht gut.

Ob sich aus einer radikal anderen Interpretation der Quantenmechanik neue Perspektiven für die technische Anwendung ergeben könnten? Direkt wahrscheinlich nicht, meint Nicolas Gisin. "Aber die Diskussion über die grundsätzlichen Fragen führt zu neuen Experimenten, und die wiederum könnten zu neuen Anwendungen führen", sagt er. Vor einigen Hundert Jahren glaubten die Menschen ja auch, dass die Erde flach sei.

Es brauche eben Zeit, ein festgefügtes Weltbild zu ändern. Je mehr Quantentechnologie entwickelt werde, desto besser "werden wir die Quantenmechanik verstehen". Vielleicht wird am Ende Hugh Everett als der gefeiert, der ihre Phänomene als Erster richtig gedeutet hat. Vielleicht entsteht aber auch etwas völlig Neues.

(wst)