Von Hardware zu Hirnware

Seite 2: SpiNNaker-Chips, hochvernetzt

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Möglich machen dies spezielle Router im Zentrum jedes Chips, die Spikes zwischen den Neuronen in Bruchteilen von Millisekunden hin- und herschicken. Eine weitere Besonderheit: Diese Kommunikation läuft vollständig asynchron ab. Jeder Chip folgt seinem eigenen Takt und verarbeitet eingehende Spikes, sobald er sie registriert. Anfangs hat Furber sich selbst gewundert, dass eine solche asynchrone Architektur die üblichen Aufgaben tiefer neuronaler Netze tadellos erledigen kann.

Eine vordefinierte Aufgabe hatte SpiNNaker indes nicht. Die Geldgeber des Human Brain Project verlangten nur, dass Furber ein hochvernetztes, spike-basiertes System mit mindestens einer halben Million Neuronen baut und dann öffentlich zugänglich macht. Seit Mitte 2016 kann jeder, der Lust hat, über das Internet seine Blaupausen für ein neuronales Netz an SpiNNaker schicken. Einige Forschergruppen haben sich sogar Platinen mit SpiNNaker-Chips per Post liefern lassen, um darauf neuronale Netze für ihre Roboter zu implementieren, etwa den "SpOmnibot" der TU München. Dessen gesamte Informationsverarbeitung, vom visuellen Input bis zu den Steuersignalen an die Räder, wird von SpiNNaker-Chips ausgeführt.

Aber auch Netzwerken mit Spikes und viel Feedback fehlt noch eine zentrale Eigenschaft des Gehirns: Sobald Spikes das Ende einer Nervenleitung erreichen, lösen sie an der Synapse die Ausschüttung chemischer Botenstoffe aus. Erst diese Neurotransmitter übertragen das Signal an die nächste Zelle. Dort kommt es jedoch nicht als Spike an, sondern besitzt eine deutlich ausgedehnte zeitliche Struktur: Das Signal schwillt an und fällt wieder ab. Wie stark, hängt davon ab, wie viele Spikes nacheinander eintreffen. Überschreitet die Stärke eine gewisse Schwelle, beginnt die Synapse mehr Rezeptoren für Neurotransmitter einzubauen. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass das empfangende Neuron ein Signal weiterleitet. Aus diesem Grund sind die zeitlichen Muster eintreffender Spikes entscheidend für die Lernfähigkeit des Gehirns.

Um diese Eigenschaft echter Hirnzellen auf Chips zu übertragen, bräuchte man analoge elektronische Bauteile. Diese aber lassen sich nur schwer zu großen Netzwerken zusammenschalten – ihre Signale können leichter verebben oder sich in Schleifen gefährlich aufschaukeln. "Rein analoge Systeme kann man nicht groß bauen", bestätigt Karlheinz Meier aus Heidelberg. Doch die Natur habe ja eine Lösung dafür gefunden: Man schickt Signale zwischen den Neuronen digital als Spikes und integriert nur nach den Synapsen die zeitlich ausgedehnten Potenziale. Es ist dieser Ansatz, den Meiers Gruppe mit BrainScaleS verfolgt. Und der könnte eine Art neuromorpher Informationsrevolution ermöglichen.

"BrainScaleS ist kein Computer", sagt Meier. To compute bedeute rechnen, also mit Abstraktionen von Zahlen operieren. BrainScaleS habe aber keine Prozessoren. Es sei einfach ein physikalisches Netzwerk, durch das Signale ohne jede Taktung hindurchlaufen und integriert werden. Dabei werden die Neuronen aus einer Kombination von Transistoren und analogen Elementen emuliert – nicht simuliert wie beim SpiNNaker-Chip.

"Neuronale Netzwerke lernen bisher vor allem aus räumlichen Informationen", sagt Meier – also aus dem Ort, von dem ein Spike kommt. BrainScaleS dagegen könne als "zeitkontinuierliches" Netzwerk auch die genauen zeitlichen Abstände der Spikes als Informationsträger nutzen. Darüber hinaus emuliert BrainScaleS Dendriten, jene vielen Äste echter Nervenzellen, auf denen die Synapsen sitzen. Dendriten sind keine passiven Empfangseinheiten, sondern können feststellen, welche Spikes in welcher zeitlichen Folge aus welchen Hirnregionen ankommen, und gegebenenfalls selbst Spikes erzeugen. So könnten sie eine lokale Fehlerkorrektur schaffen, von der oben die Rede war. Genau diese Theorie soll BrainScaleS nun testen.

Mit diesen drei Eigenschaften – Feedback, aktiven Dendriten und kontinuierlicher Zeit – ist BrainScaleS heute das wohl "neuromorphste" System. Meier hofft, damit in Zukunft auch Probleme zu lösen, an denen tiefe neuronale Netze und andere neuromorphe Systeme bisher scheiterten – etwa das kontinuierliche Lernen aus Sinnesdaten.

"Die Hoffnung ist, dass neuromorphe Systeme in Zukunft so effizient lernen wie biologische", sagt Steve Furber. Noch füllen Systeme wie SpiNNaker und BrainScaleS ganze Schränke. Sollten sich die Erwartungen an effiziente neuromorphe Chips bestätigen, könnte das ein neues Rennen zur Miniaturisierung auslösen, diesmal mit einer Hardware, die wirklich von unserem Denkorgan abgeschaut ist.

Ob unser Wissen über die Funktion des Gehirns dafür ausreicht, ist jedoch noch offen. Selbst ein Chipriese wie Intel ist sich unsicher, wohin die Reise geht. Zwar präsentierte Intel zur Elektronikmesse CES Anfang des Jahres stolz seinen neuromorphen Chip namens Loihi. Der ist ebenfalls spike-basiert, arbeitet asynchron und ist mit 130000 Neuronen und 130 Millionen Synapsen stark vernetzt. Jeder Rechnerkern besitzt, wie bei BrainScaleS, einen eigenen Lernprozessor.

Intel verkauft den Chip in einem Werbevideo schon jetzt als Zukunft der Menschheit. Die beteiligten Entwickler sehen das Produkt nüchterner: Loihi sei der komplexeste neuromorphe Chip, den sie bislang entwickelt haben, schreiben Mike Davies und seine Kollegen von den Intel Labs. "In manchen Punkten" sei das Design vielleicht "zu flexibel, in anderen nicht flexibel genug", und ein kommerziell verfügbarer Neurochip könne vielleicht "an einem ganz anderen Designpunkt" landen. "Aber wir hoffen, Loihi ist ein Schritt in die richtige Richtung." Ein Satz, den wahrscheinlich die gesamte Community unterschreiben würde.

(bsc)