Vier Punkte, wo KI bereits im Netzmanagement hilft

Von der Vorhersage der Ladezeiten von Elektrofahrzeugen bis hin zur Ermittlung von Gebieten mit hohem Waldbrandrisiko: So verändert KI unsere Energienetze.

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Umspannwerk

Umspannwerk in Bremen.

(Bild: heise online / anw)

Lesezeit: 11 Min.
Von
  • June Kim
Inhaltsverzeichnis

Das Stromnetz wird immer komplexer, je mehr erneuerbare Energie eingespeist wird. Wo früher eine kleine Anzahl großer Kraftwerke die meisten Haushalte gleich- und regelmäßig mit Strom versorgte, erzeugen heute Millionen von Solaranlagen variablen Strom, Windräder gehen im Minutentakt ans Netz oder schalten sich ab. Zunehmend unvorhersehbare Wetterbedingungen erschweren den Ausgleich zwischen Stromangebot und der Nachfrage zusätzlich. Doch wie bewältigt man dieses Chaos? Die Antwort lautet zunehmend: Künstliche Intelligenz.

Die Fähigkeit von KI-Systemen, aus großen Datenmengen Schlüsse zu ziehen und auf komplexe Szenarien zu reagieren, macht sie besonders geeignet für die Aufgabe, das Stromnetz stabil zu halten. Eine wachsende Zahl von Softwareunternehmen bringt KI-Produkte in die notorisch umbruchresistente Energiebranche. In den USA wurde dieser Trend nun vom Energieministerium (U.S. Department of Energey, DoE) erkannt. Für verschiedene Smart-Grid-Projekte sollen nun Zuschüsse in Höhe von drei Milliarden US-Dollar fließen, die auch KI-bezogene Initiativen umfassen.

Das Interesse an KI im Energiesektor wächst. Einige Beobachter spekulieren bereits über die Möglichkeit eines vollautomatischen Stromnetzes, in dem theoretisch keine Menschen mehr benötigt würden – zumindest für alltägliche Entscheidungen. Doch die Aussicht liegt noch in weiter Ferne. Im Moment liegt die Verheißung im Potenzial der KI, Menschen zu helfen, indem sie in Echtzeit Erkenntnisse für ein besseres Netzmanagement liefert. Die folgenden vier Beispiele sollen zeigen, wo und wie die Technik die Arbeit von Stromnetzbetreibern bereits verändert.

Das Stromnetz wird gerne als komplexeste Maschine bezeichnet, die je gebaut wurde. Da das Netz so groß ist, ist es für eine einzelne Person unmöglich, alles, was darin zu einem bestimmten Zeitpunkt passiert, vollständig zu erfassen, geschweige denn vorherzusagen, was später passieren wird. Feng Qiu, Wissenschaftler am Argonne National Laboratory, einem von der US-Regierung finanzierten Forschungsinstitut, erklärt, dass KI das Stromnetz in dreierlei Hinsicht unterstützt: Die Technik hilft den Betreibern, die aktuellen Bedingungen zu verstehen, bessere Entscheidungen zu treffen und mögliche Probleme vorherzusagen.

Qiu hat jahrelang erforscht, wie maschinelles Lernen den Netzbetrieb verbessern könnte. Im Jahr 2019 ging sein Team eine Partnerschaft mit Midcontinent Independent System Operator (MISO) ein, einem Stromnetzbetreiber, der 15 US-Bundesstaaten und Teile Kanadas versorgt. Dabei wurde ein Modell für maschinelles Lernen getestet, das die tägliche Planungsarbeit für ein Netz optimieren soll, das in seiner Größe mit dem von MISO vergleichbar ist.

Schon heute führen Netzbetreiber wie MISO täglich komplexe mathematische Berechnungen durch, um den Strombedarf für den nächsten Tag vorherzusagen und die kosteneffizienteste Lösung für die Verteilung dieser Energie zu finden. Das maschinelle Lernmodell von Qius Team hat gezeigt, dass diese Berechnungen 12-mal schneller durchgeführt werden können als ohne KI – wodurch sich die benötigte Zeit für einen Durchgang von fast 10 Minuten auf 60 Sekunden reduziert. Wenn man bedenkt, dass Systembetreiber diese Berechnungen mehrmals am Tag durchführen, könnte die Zeitersparnis erheblich sein.

Derzeit entwickelt das Team von Qiu auch ein Modell zur Vorhersage von Stromausfällen, das Faktoren wie Wetter, Geografie und sogar das Einkommensniveau verschiedener Stadtteile berücksichtigt. Anhand dieser Daten kann es dann Muster aufzeigen, beispielsweise die Wahrscheinlichkeit längerer und häufigerer Stromausfälle in einkommensschwachen Gebieten mit schlechter Infrastruktur. Bessere Vorhersagen könnten dazu beitragen, Stromausfälle zu verhindern, bei Havarien und Kastastrophenszenarien schneller zu reagieren und das Kundenleid zu minimieren, wenn solche Probleme doch auftreten.

Die Bemühungen um die Integration von KI sind nicht auf Forschungslabors beschränkt. Lunar Energy, ein Start-up im Bereich Batterie- und Netztechnologie, nutzt KI-Software, um seinen Kunden zu helfen, ihren Energieverbrauch zu optimieren und Geld zu sparen. "Man hat ein Netz von Millionen von Geräten und muss ein System schaffen, das alle Daten aufnehmen und die richtige Entscheidung treffen kann", sagt Sam Wevers, Leiter der Softwareabteilung von Lunar Energy. "Nicht nur für jeden einzelnen Kunden, sondern auch für das Netz. Hier kommt die Leistungsfähigkeit von KI und maschinellem Lernen ins Spiel."

Die Gridshare-Software von Lunar Energy nutzt Daten von Zehntausenden von Haushalten, aus denen Informationen über den Energieverbrauch zum Aufladen von Elektrofahrzeugen, zum Betrieb von Geschirrspülern und Klimaanlagen und zahlreiche weitere kommen. In Kombination mit Wetterdaten fließen diese in ein Modell ein, das personalisierte Vorhersagen über den Energiebedarf der einzelnen Häuser erstellt.

Als Beispiel beschreibt Wevers ein Szenario, in dem zwei Häuser in einer Straße über gleich große Solarmodule verfügen, das eine Haus jedoch einen hohen Baum im Garten stehen hat, der nachmittags Schatten spendet, sodass seine Module etwas weniger Energie erzeugen. Diese Art von Details könnte kein Energieversorgungsunternehmen auf Haushaltsebene manuell nachverfolgen, aber KI ermöglicht es, diese Art von Berechnungen automatisch in großem Umfang durchzuführen.

Dienste wie Gridshare sind in erster Linie darauf ausgerichtet, dem einzelnen Kunden zu helfen, Geld und Energie zu sparen. Aber im Großen und Ganzen liefern sie den Versorgern auch klarere Verhaltensmuster, die ihnen helfen, die Energieplanung zu verbessern. Das Erfassen solcher Nuancen ist für die Reaktionsfähigkeit des Netzes von entscheidender Bedeutung.

Obwohl sie für die Umstellung auf emissionsarme Transportsysteme entscheidend sind, stellen Elektrofahrzeuge eine echte Herausforderung für das Stromnetz dar. John Taggart, Mitbegründer und CTO des Netzsteuerers WeaveGrid, sagt, dass die Einführung von E-Autos den Energiebedarf erheblich erhöht. "Das letzte Mal, dass [die Energieversorgungsunternehmen] ein derartiges Wachstum bewältigen mussten, war, als Klimaanlagen aufkamen."

Die Einführung von E-Fahrzeugen konzentriert sich zudem auf bestimmte Städte oder auch nur Stadtteile, was zu einer Überlastung des lokalen Stromnetzes führen kann. Um dieses Problem zu reduzieren, arbeitet das in San Francisco ansässige Unternehmen mit Energieversorgern, Autoherstellern und Ladeunternehmen zusammen, um Daten über das Laden von Elektrofahrzeugen zu sammeln und zu analysieren.

Durch die Untersuchung von Lademustern und deren Dauer ermittelt WeaveGrid die optimalen Ladezeiten und gibt den Kunden per SMS oder App-Benachrichtigung Empfehlungen, wann sie ihre Fahrzeuge aufladen sollten. In einigen Fällen gewähren die Kunden den Unternehmen sogar die volle Kontrolle über das automatische Laden oder Entladen der Batterien je nach Netzbedarf und erhalten dafür finanzielle Anreize wie Gutscheine. Dadurch werden die Autos selbst zu einer wertvollen Quelle der Energiespeicherung für das Stromnetz. Große Energieversorgungsunternehmen wie PG&E, DTE und Xcel Energy sind an dem Programm beteiligt.

DTE Energy, ein in Detroit ansässiges Versorgungsunternehmen, das den Süden Michigans versorgt, hat mit WeaveGrid zusammengearbeitet, um die Netzplanung zu verbessern. Das Unternehmen konnte nach eigenen Angaben 20.000 Haushalte mit E-Fahrzeugen in seinem Versorgungsgebiet identifizieren und nutzt diese Daten zur Berechnung langfristiger Lastprognosen.

Mehrere Versorgungsunternehmen haben außerdem damit begonnen, KI in kritische Abläufe zu integrieren, insbesondere bei der Inspektion und Verwaltung der physischen Infrastruktur wie Übertragungsleitungen und Transformatoren. So sind beispielsweise schlecht gemanagter Bewuchs eine der Hauptursachen für Stromausfälle, da Äste auf Stromleitungen fallen oder Brände auslösen können. Bislang wurden die Leitungen in der Regel manuell inspiziert, was jedoch angesichts der großen Ausdehnung der Netze Monate in Anspruch nehmen kann.

PG&E, das für Nord- und Zentralkalifornien zuständig ist, setzt maschinelles Lernen ein, um solche Inspektionen zu beschleunigen. Durch die Analyse von Fotos, die von Drohnen und Hubschraubern aufgenommen wurden, werden Bereiche identifiziert, in denen Bäume beschnitten werden müssen. Auch werden defekte Anlagen entdeckt, die repariert werden müssen. Einige Unternehmen gehen sogar noch weiter und nutzen KI, um Klimarisiken zu bewerten.

Im Oktober hat Rhizome, ein Start-up mit Sitz in Washington, DC, ein KI-System auf den Markt gebracht, das die historischen Daten der Versorgungsunternehmen über die Leistung von Energieanlagen mit globalen Klimamodellen kombiniert. Es soll helfen, die Wahrscheinlichkeit von Netzausfällen infolge extremer Wetterereignisse wie Schneestürmen oder Waldbränden vorherzusagen.

Es gibt Dutzende von Bereichen, die Netzbetreiber in Angriff nehmen könnten, um ihre Resilienz zu verbessern, aber es fehle an der Zeit und den Mitteln, sie alle auf einmal anzugehen, sagt Mish Thadani, Mitbegründer und CEO. Mit Software wie der seinen könnten Versorgungsunternehmen nun intelligentere Entscheidungen darüber treffen, welche Projekte Priorität haben sollten und welche nicht.

Wenn KI in der Lage ist, all diese Entscheidungen schnell und zuverlässig zu treffen, wäre es dann möglich, sie einfach den Netzbetrieb übernehmen zu lassen und die menschlichen Operateure nach Hause zu schicken? Experten sagen: Nein. Bis zur vollständigen Automatisierung des Stromnetzes sind noch große Hürden zu überwinden. Das schwerwiegendste Problem ist die Sicherheit. Forscher Qiu erklärt, dass es derzeit strenge Protokolle und Kontrollen gibt, um Fehler bei kritischen Entscheidungen zu vermeiden – z. B. bei der Frage, wie auf mögliche Ausfälle oder Fehler der Geräte reagiert werden soll.

"Das Stromnetz muss sehr strengen physikalischen Gesetzen folgen", sagt Qiu. KI sei zwar hervorragend in der Lage, mathematische Berechnungen zu verbessern, aber sie sei noch nicht bereit, die in der realen Welt auftretenden Betriebsbeschränkungen und Sonderfälle zu berücksichtigen. Das stelle ein zu großes Risiko für Netzbetreiber dar, deren Hauptaugenmerk auf der Zuverlässigkeit liegt. Denn: Eine falsche Entscheidung zur falschen Zeit könnte zu massiven Stromausfällen führen.

Datenschutz ist ein weiteres Problem. Jeremy Renshaw, technischer Experte im Management des Electric Power Research Institute der US-Stromversorger, sagt, dass es entscheidend sei, Kundendaten zu anonymisieren, damit sensible Informationen – wie z. B. die Tageszeiten, zu denen die Menschen zu Hause bleiben – geschützt sind. KI-Modelle bergen auch das Risiko, dass Vorurteile in das Modell hineinregieren, die Minderheiten benachteiligen könnten. In der Vergangenheit waren arme Stadtteile oft die letzten, die nach Stromausfällen wieder mit Strom versorgt wurden, sagt Renshaw. Modelle, die auf der Grundlage dieser Daten trainiert wurden, könnten ihnen weiterhin eine niedrigere Priorität zuweisen.

Um diesem potenziellen Bias entgegenzuwirken, steigt die Bedeutung von Mitarbeiterschulungen bei der Einführung von KI in Unternehmen, sagt Renshaw. Damit die Mitarbeiter verstehen, welche Aufgaben für die Technologie geeignet sind und welche nicht. "Man könnte ja eine Schraube auch mit einem Hammer einschlagen, aber mit einem Schraubenzieher wird es wahrscheinlich viel besser funktionieren", sagt er.

(bsc)