Wie KI die Psychotherapie verbessern könnte

Maschinelles Lernen wird mit Hilfe von Transkripten aus Patientensitzungen gefüttert. Ergebnis könnten besser funktionierende Therapieformen sein.

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(Bild: Karolin Schnoor)

Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Charlotte Jee
  • Will Douglas Heaven
Inhaltsverzeichnis

Noch an viele Dinge erinnert sich Kevin Cowley, wenn es um den 15. April 1989 geht. Er war damals mit dem Bus zum Hillsborough-Fußballstadion in englischen Sheffield gefahren, um das Halbfinale der Meisterschaft zwischen Nottingham Forest und Liverpool zu sehen. Er war zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt und es war ein schöner, sonniger Nachmittag. Die Fans füllten die Ränge der Tribünen.

Cowley weiß noch, dass er so eng zwischen die Menschen gepresst wurde, dass er seine Hände nicht mehr aus den Taschen nehmen konnte. Er erinnert sich an das Einstürzen der Sicherheitsbarriere, die hinter ihm zusammenbrach, als seine Mannschaft fast ein Tor geschossen hätte und die Menge tobte.

Hunderte von Menschen stürzten plötzlich wie Dominosteine – von denjenigen umgeworfen, die neben ihnen eingeklemmt waren. Cowley wurde in die Menge hineingezogen wie in einen See. Er erinnert sich daran, wie er plötzlich zwischen den Toten und Sterbenden aufwachte, die unter dem Gewicht der Körper zusammengedrückt worden waren. Er erinnert sich an den Geruch von Urin und Schweiß, an die Schreie dieser Menschen. Er erinnert sich daran, wie er dem Mann, der neben ihm ums Überleben kämpfte, in die Augen sah und sich dann selbst auf ihn stellte, um sich zu retten. Er fragt sich heute noch, ob dieser Mann einer der 94 Menschen war, die an diesem Tag im Stadium starben.

All diese Erinnerungen haben Cowley sein ganzes Erwachsenenleben über gequält. 30 Jahre lang litt er unter Flashbacks und Schlaflosigkeit. Er hatte Schwierigkeiten zu arbeiten, schämte sich aber zu sehr, um mit seiner Frau darüber zu sprechen. Die schlimmsten Gedanken verdrängte er, indem er trank. Im Jahr 2004 verwies ihn ein Arzt dann an einen jungen Therapeuten in Ausbildung, aber der half ihn nicht und er brach die Therapie nach ein paar Sitzungen ab.

Doch vor zwei Jahren entdeckte Cowley dann im Internet Reklame für einen Therapieanbieter – und er beschloss, es noch einmal zu versuchen. Nach Dutzenden regelmäßiger Sitzungen, in denen er sich mit seinem Therapeuten per Kurznachricht austauschte, hat sich Cowley, heute 49, endlich von seiner schweren posttraumatischen Belastungsstörung erholt. "Es ist erstaunlich, wie ein paar Worte ein Leben verändern können", sagt Andrew Blackwell, wissenschaftlicher Leiter von Ieso, einer britischen Klinik für Psychiatrie, in der Cowley behandelt wird.

Entscheidend war dabei, die richtigen Worte zur richtigen Zeit zu hören. Blackwell und seine Kollegen bei Ieso leisten daher Pionierarbeit bei einem neuen Ansatz für die psychiatrische Versorgung, bei dem die in Therapiesitzungen verwendete Sprache von einem KI-System analysiert wird. Die Idee ist, mithilfe der Verarbeitung natürlicher Sprache (Natural Language Processing, NLP) zu ermitteln, welche Teile eines Gesprächs zwischen Therapeuten und Patienten – welche Arten von Äußerungen und welcher genaue sprachliche Austausch von Emotionen – bei der Behandlung verschiedener Störungen am wirksamsten sind.

Ziel ist es, den Therapeuten einen besseren Einblick in ihre Arbeit zu geben, um erfahrenen Klinikern zu helfen, einen hohen Behandlungsstandard aufrechtzuerhalten – und Psychologen in Ausbildung zu helfen, besser zu werden. Angesichts des weltweiten Versorgungsdefizits in Fragen der geistigen Gesundheit könnte eine automatisierte Form der Qualitätskontrolle entscheidend dazu beitragen, dass die bestehenden Einrichtungen endlich der Nachfrage gerecht werden.

Letztendlich könnte dieser Ansatz Aufschluss darüber geben, wie Psychotherapie überhaupt funktioniert – etwas, über das Praktiker und Forscher erstaunlicherweise noch weitgehend im Dunkeln tappen. Ein neues Verständnis der Wirksamkeit von Gesprächstherapie könnte die Tür zu einer personalisierten psychiatrischen Versorgung öffnen, die es Therapeuten ermöglicht, psychiatrische Behandlungen auf bestimmte Kunden maßzuschneiden, ähnlich wie sie es zunehmend bei der Verschreibung von Medikamenten tun.

Forscher versuchen seit Jahren, die Gesprächstherapie zu untersuchen, um herauszufinden, warum manche Therapeuten bessere Ergebnisse erzielen als andere. Es ist eine Kunst, aber auch Wissenschaft. Erfolg basiert oft auf der Erfahrung und dem Bauchgefühl qualifizierter Therapeuten. Es war bisher praktisch unmöglich, vollständig zu quantifizieren, was in der Therapie funktioniert und warum. Zac Imel, Forscher im Bereich Psychotherapie an der Universität von Utah, erinnert sich, wie er selbst versuchte, Abschriften von Therapiesitzungen per Hand zu analysieren. "Das dauert ewig – und die Stichprobengröße ist peinlich klein", sagt er. "Und so haben wir in den Jahrzehnten, in denen wir es bereits gemacht haben, nicht viel gelernt."

KI ändert diese Rechnung. Die Technik des maschinellen Lernens, die die automatische Verarbeitung durchführt, kann schnell große Mengen an Sprache analysieren. Das gibt Forschern Zugang zu einer unerschöpflichen, ungenutzten Datenquelle: der Sprache, die Therapeuten verwenden. Die Wissenschaftler glauben, dass sie die Erkenntnisse aus diesen Daten nutzen können, um der Gesprächstherapie einen längst überfälligen Schub zu geben. Das Ergebnis könnte sein, dass es mehr Menschen wieder besser geht – und dieser Zustand erhalten bleibt.

Blackwell und seine Kollegen sind nicht die einzigen, die diese Vision verfolgen. Ein Unternehmen in den USA, Lyssn, entwickelt eine ähnliche Technik. Lyssn wurde vom Experten Imel und Firmenchef David Atkins mitbegründet, der an der Universität von Washington Psychologie und maschinelles Lernen untersucht. Dabei werden die KI-Systeme wie erwähnt mit Transkripten von Therapiesitzungen trainiert. Um die NLP-Modelle zu füttern, werden einige hundert Transkripte von Hand kommentiert, um die Rolle hervorzuheben, die die Worte von Therapeuten und Patienten an diesem Punkt der Sitzung spielen. So kann eine Sitzung beispielsweise damit beginnen, dass der Therapeut den Betroffenen begrüßt und dann zur Besprechung der aktuellen Stimmungslage des Patienten übergeht. In einem späteren Gespräch kann der Therapeut sich in die Probleme des Patienten einfühlen und ihn fragen, ob er die in der vorherigen Sitzung besprochenen Übungen durchgeführt hat. All das geht noch weiter ins Detail.

Die Technologie funktioniert ähnlich wie ein Algorithmus zur Analyse von Stimmungen, der erkennen kann, ob Filmkritiken positiv oder negativ ausfallen – oder wie ein Übersetzungsprogramm, das lernt, Englisch und Chinesisch zu verbinden. In diesem Fall aber übersetzt die KI die natürliche Sprache in eine Art Barcode oder Fingerabdruck einer Therapiesitzung, der erkennen lässt, welche Rolle die verschiedenen Äußerungen spielen.

Der Fingerabdruck einer Sitzung kann anzeigen, wie viel Zeit mit konstruktiver Therapie und wie viel mit allgemeinem Geplauder verbracht wurde. Diese Darstellung kann den Therapeuten helfen, sich in künftigen Sitzungen mehr auf das konstruktive Gespräch zu konzentrieren, sagt Stephen Freer, Chief Clinical Officer von Ieso, der die rund 650 Therapeuten der Klinik anleitet.

Die Probleme, die sowohl Ieso als auch Lyssn bearbeiten, sind von großer Bedeutung. Cowleys Geschichte verdeutlicht zwei große Defizite in der psychiatrischen Versorgung: Zugang zu Therapien und deren Qualität. Cowley litt 15 Jahre lang, bevor ihm eine Behandlung überhaupt angeboten wurde – und als er sie 2004 zum ersten Mal in Anspruch nahm, half sie ihm nicht. Es dauerte weitere 15 Jahre, bis er eine Behandlung erhielt, die funktionierte. Cowleys Erfahrung klingt extrem, ist aber nicht ungewöhnlich. Warnungen vor einer Krise in der psychischen Gesundheitsversorgung ignorieren eine grundlegende Wahrheit: Wir befinden uns bereits in vielen Ländern in einer solchen. Trotz der langsam schwindenden Stigmatisierung des Themas bekommen die meisten Menschen, die Hilfe für ein psychisches Problem benötigen, diese immer noch nicht. Etwa jeder Fünfte von uns ist zu irgendeinem Zeitpunkt im Leben psychisch krank, doch 75 Prozent der Betroffenen erhalten keinerlei Hilfe.

Und von denen, die behandelt werden, hat nur etwa die Hälfte überhaupt Aussicht auf Heilung – und zwar in den besten Gesundheitssystemen der Welt, sagt Blackwell. "Wenn wir mit einem gebrochenen Bein in ein Krankenhaus kämen und man uns sagen würde, dass die Chance, dass es geheilt wird, 50:50 beträgt, wäre das irgendwie nicht akzeptabel", sagte er letztes Jahr bei einem TED-Talk. "Ich denke, wir sollten uns selbst die Herausforderung stellen, hier höhere Erwartungen an uns zu haben."

Die Pandemie hat das Problem verschlimmert, aber nicht ausgelöst. Es geht im Wesentlichen um Angebot und Nachfrage. Die Nachfrage kommt von uns, die durch eine der anstrengendsten Phasen seit Menschengedenken ausgelöst wurde. Das Problem auf der Angebotsseite ist ein Mangel an guten Therapeuten.

Das ist es, was Ieso und Lyssn behandeln wollen. Laut Freer geht man beim Angebotsproblem in der Regel von der Annahme aus, dass man entweder mehr Therapeuten oder bessere Therapeuten haben kann, aber nicht beides. "Ich glaube, das ist eine Fehlannahme", sagt er. Bei Ieso glaubt man, dass man den Zugang zur Versorgung verbessern und die KI gleichzeitig für das Qualitätsmanagement nutzen kann.

Ieso ist einer der größten Anbieter, der vom britischen National Health Service (NHS) bezahlt wird und Therapien über das Internet per Sprachnachricht oder Video anbietet. Die Therapeuten von Ieso haben bisher mehr als 460.000 Stunden kognitiver Verhaltenstherapie (Cognitive Behavioral Therapy, CBT) für rund 86.000 Kunden durchgeführt. CBT ist eine mittlerweile weit verbreitete und nachgewiesen wirksame Technik, Menschen bei der Bewältigung ihrer Probleme zu helfen, indem sie ihre Denk- und Verhaltensweisen ändert. Online lassen sich so etwa Stimmungsschwankungen, Angststörungen, Depressionen und Belastungsstörungen behandeln.

Nach Angaben von Ieso liegt die Heilungsquote über alle Störungen bei 53 Prozent, verglichen mit dem nationalen Durchschnitt von 51 Prozent. Dieses Plus hört sich gering an, aber bei 1,6 Millionen Überweisungen zur Gesprächstherapie im Vereinigten Königreich pro Jahr sind das Zehntausende von Menschen, die sonst vielleicht noch immer leiden würden. Und das Unternehmen ist überzeugt, dass es noch mehr tun kann.

Seit 2013 konzentriert sich Ieso auf Depressionen und Angststörungen und setzt datengetriebene Techniken ein, bei denen NLP eine zentrale Rolle spielt, um die Behandlungschancen bei diesen Erkrankungen drastisch zu erhöhen. Nach Angaben von Ieso liegt die Heilungsrate im Jahr 2021 bei Depressionen bei 62 Pozent – im Vergleich zum nationalen Durchschnitt von 50 Prozent – und bei generellen Angststörungen bei 73 Prozent im Vergleich zumnationalen Durchschnitt von 58 Prozent.

Die Konzentration auf Angststörungen und Depressionen kommt aus dem Grund, dass es sich dabei um zwei der häufigsten Erkrankungen handelt. Sie sprechen aber auch besser auf CBT an als andere Störungen, wie z. B. Zwangsneurosen. Es ist noch nicht klar, wiestark die Klinik ihren Erfolg ausdehnen kann – aber sie plant, sich auf weitere Erkrankungen zu konzentrieren. Theoretisch können Praktiker durch den Einsatz von KI zur Überwachung ihrer Qualität mehr Patienten betreuen, da eine bessere Therapie weniger unproduktive Sitzungen bedeutet – obwohl Ieso die direkten Auswirkungen von NLP auf die Effizienz der Behandlung noch nicht untersucht hat.

"Im Moment können wir mit 1.000 Stunden Therapiezeit zwischen 80 und 90 Klienten behandeln", sagt Freer. "Wir versuchen, dies zu verbessern und fragen uns: Kann man mit der gleichen Anzahl von Therapiestunden 200, 300 oder sogar 400 Klienten behandeln?" Im Gegensatz zu Ieso bietet Lyssn selbst keine Therapie an. Stattdessen stellt das Unternehmen seine Software anderen Kliniken und Universitäten im Vereinigten Königreich und in den USA zur Qualitätskontrolle und Schulung zur Verfügung.

Zu den Kunden von Lyssn in den USA gehört ein Programm zur telemedizinischen Behandlung von Suchtkranken in Kalifornien, das die Qualität der von seinen Versorgern erbrachten Leistungen überwachen soll. Das Unternehmen arbeitet auch mit der Universität von Pennsylvania zusammen, um CBT-Therapeuten in Philadelphia mit seiner Technologie auszustatten. Im Vereinigten Königreich arbeitet Lyssn mit drei Organisationen zusammen, darunter Trent Psychological Therapies Service, eine unabhängige Klinik, die – wie Ieso – vom NHS mit der Bereitstellung von psychosozialen Therapien beauftragt ist. Trent PTS testet die Software derzeit noch. Da das NLP-Modell in den USA entwickelt wurde, musste die Klinik mit Lyssn zusammenarbeiten, damit es auch britische Sprachmuster erkennt.

Dean Repper, Leiter der klinischen Dienste von Trent PTS, ist der Meinung, dass die Software seinen Therapeuten helfen könnte, bewährte Verfahren zu standardisieren. "Man sollte meinen, dass Therapeuten, die ihre Arbeit schon seit Jahren tun, die besten Ergebnisse erzielen", sagt er. "Aber das ist nicht unbedingt der Fall." Repper vergleicht es mit dem Autofahren. "Wenn man lernt, ein Auto zu fahren, lernt man eine Reihe von Standards für sicheres Fahren", sagt er. "Aber nach einer Weile hört man auf, einige dieser Dinge zu tun – und kassiert vielleicht einen Strafzettel für zu schnelles Fahren." Die KI soll die menschliche Betreuung verbessern, aber nicht ersetzen. Der Mangel an qualitativ hochwertiger psychiatrischer Versorgung wird aber wohl kaum durch kurzfristig eingeführte Systeme behoben werden können. Um dieses Problem anzugehen, müssten auch die allgemeine Stigmatisierung abgebaut, die Geldmittel aufgestockt und die Ausbildung insgesamt verbessert werden – und zwar weltweit.

(bsc)