Wie Twitter einen Hirntod stirbt – ein Abgesang

Elon Musk schwingt sich auf zum Sprachrohr der radikalen Rechten. Twitters Herz schlägt zwar noch, doch das Hirn funktioniert nicht mehr.

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(Bild: Ascannio/Shutterstock.com)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Abby Ohlheiser
Inhaltsverzeichnis

Menschen sterben selten von einer Sekunde auf die andere. Der Tod ist vielmehr ein Prozess des Abschaltens, der sich über Minuten hinziehen kann: Das Herz schlägt nicht mehr, die Atmung hört auf, die Organe stellen nach und nach ihre Arbeit ein. Das Gehirn hört auf, zu funktionieren. Der Hirntod ist dauerhaft, aber das Herz kann noch eine Zeit lang von alleine weiter schlagen.

Der Zustand von Twitter seit der Übernahme durch Elon Musk fühlt sich an wie diese Art von Hirntod: Das technische Herz, die Prozesse, die es online halten, schlägt irgendwie noch. Aber das, was Twitter vor Musk war, kommt nie wieder zurück.

Am Montag, dem 12. Dezember, löste Twitter sein Trust and Safety Council auf, eine breit gefächerte Gruppe aus globalen Bürgerrechtlern, Akademikern und Expertinnen, die das Unternehmen seit 2016 beraten haben. In der Zwischenzeit hat Musk hochkarätige Extremisten wie den weißen Nationalisten Patrick Casey, die zuvor gesperrt waren, wieder zurück auf die Plattform geholt. Ebenfalls wieder an Bord sind: Meninist, ein Account für "Männerrechte" mit mehr als einer Million Followern. Der umstrittene Kardiologe Peter McCullough, der lebensgefährliche Behandlungen gegen Covid-19 befürwortet hatte. Und Tim Gionet, eine rechtsextreme Medienpersönlichkeit, der per Livestream am Sturm auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021 dabei war.

Elon Musks Abbau von Arbeitsplätzen, Kosteneinsparungen und die Zerstörung der Sicherheitsinfrastruktur von Twitter hat dazu geführt, dass Werbekunden in Scharen abgewandert sind. Berichten zufolge hat das Unternehmen die Hälfte seiner 100 wichtigsten Werbekunden verloren und die planmäßigen wöchentlichen Werbeeinnahmen in den USA um bis zu 80 Prozent verfehlt. Das Verhalten Musks bringt nun auch die verbliebenen Werbepartner in Bedrängnis. Denn wer möchte noch auf einer Plattform werben, die es offiziell aufgegeben hat, gegen Falschinformationen vorzugehen und deren Eigentümer Entscheidungen entweder spontan oder durch nicht-wissenschaftliche und leicht zu manipulierende Umfragen trifft?

Sicher, es gibt zahlreiche Menschen, denen Musks Vision für Twitter gefällt, und die wieder vermehrt Beiträge schreiben. Für andere dagegen wird es immer schwieriger, ihre Präsenz auf der Website zu rechtfertigen. Manche legen eine Pause ein, andere wandern zu alternativen Diensten ab. Einer Schätzung zufolge könnte Twitter innerhalb weniger Tage nach Musks Übernahme eine Million Nutzerinnen und Nutzer verloren haben, darunter Prominente wie Elton John, der am 9. Dezember seinen Abschied verkündet hat.

MIT Technology Review hat eine Analyse mit Hoaxy durchgeführt, einem von der Indiana University entwickelten Werkzeug, das die Verbreitung von Informationen auf Twitter anhand der Häufigkeit von Schlüsselwörtern und Interaktionen zwischen einzelnen Konten aufzeigt. Die Ergebnisse deuten auf die neue Rolle Musks in diesem Netzwerk hin: Er ist quasi ein Flurwächter für die extreme Rechte.

Hoaxy stellt die Interaktionen visuell dar, zeigt die Verbindungen zwischen einzelnen Twitter-Konten zu einem bestimmten Schlüsselwort oder Hashtag und gibt an, ob dieser Account derjenige ist, der den Suchbegriff an andere weitergibt oder von Accounts erwähnt wird, die dies tun. Konten, die aktiver an Unterhaltungen beteiligt sind, erscheinen als Knotenpunkte.

Musk war von Freitag, dem 9. Dezember, bis zum Nachmittag des Sonntags, dem 11. Dezember, als wir die Analyse durchführten, ein wichtiger Knotenpunkt bei der Verwendung des Schimpfworts "Groomer". Das bezeichnet einen Erwachsenen, der sich das Vertrauen einer (häufig minderjährigen) Zielperson erschleicht, um sie dann für Sex zu gewinnen. Wir untersuchten haben sowohl "Groomer" als auch "OK groomer" untersucht.

Laut einem Bericht der NGOs GLAAD und Media Matters hat die Häufigkeit und Reichweite der Begriffe seit der Übernahme von Elon Musk drastisch zugenommen. Zwar hat Musk das Schimpfwort bislang nicht selbst getwittert, aber er wurde wiederholt von anderen, die das Wort verwenden, in Tweets erwähnt.

Diese Nutzerinnen und Nutzer suchen offenbar gezielt die Aufmerksamkeit und Verstärkung von dem Mann, dem Twitter gehört. Die Menschen, die sie verunglimpfen, markieren sie als tendenzielle Ziele für weitere Belästigungen. In anderen Fällen wird Musk in Unterhaltungen markiert, in denen die Beleidigung verwendet wird, um diejenigen anzugreifen, die ihm auf Twitter direkt widersprechen – einschließlich Jack Dorsey, dem Mitbegründer und ehemaligen CEO des Unternehmens. Der hat unlängst Musks Behauptung angefochten, dass Twitter sich jahrelang geweigert habe, Maßnahmen gegen die Ausbeutung von Kindern zu ergreifen.

Nicht selten beteiligt sich Musk aktiv an der Diskussion. Er interagiert regelmäßig mit einer Reihe von Power-Usern und Fans, darunter konservative Meme-Accounts und rechtsradikale Persönlichkeiten wie Ian Miles Cheong und Andy Ngo. "Meine Pronomen sind Prosecute/Fauci", twitterte er letztes Wochenende, womit er sich der Bewegung anschließt, die den Immunologen und Gesundheitsberater der US-Regierung, Anthony Fauci, vor Gericht bringen und zumindest einsperren will. Als der Astronaut Scott Kelly ihn öffentlich aufforderte, "sich nicht über bereits ausgegrenzte und von Gewalt bedrohte Mitglieder der #LGBTQ+-Gemeinschaft lustig zu machen und Hass zu schüren", antwortete Musk: "Es ist weder gut noch freundlich, anderen seine Pronomen aufzuzwingen, wenn sie nicht danach gefragt haben, und diejenigen, die das nicht tun, implizit auszugrenzen."

Zu Beginn des Wochenendes beteiligte sich Musk implizit an einer Verleumdungskampagne gegen Yoel Roth, den ehemaligen Leiter der Abteilung für Vertrauen und Sicherheit bei Twitter, dem unbegründete Pädophilie vorgeworfen wird. Musk, der in der Vergangenheit bereits eine Verleumdungsklage abwehren musste, weil er einen britischen Höhlenforscher als "Pedo-Guy" bezeichnet hatte, warf Roth zwar nicht persönlich vor, pädophil zu sein. Er verwies aber auf die Antworten eines Podcast-Moderators, der Musk in ein Gespräch über einen von Roths alten Tweets verwickelte. Laut dem Nachrichtensender CNN war Roth gezwungen, sein Haus zu verlassen und unterzutauchen, nachdem er zahlreiche Morddrohungen erhalten hatte.

Während Musk eifrig das Narrativ amerikanischer Rechtsextremer über die vermeintlich freie Meinungsäußerung bedient, vergisst er dabei die Rolle von Twitter im Rest der Welt. Musks Übernahme von Twitter sei "apokalyptisch", sagte etwa Thenmozhi Soundararajan, der Geschäftsführer von Equality Labs, einer hinduistischen Bürgerrechtsorganisation, Ende November. Soundararajan gehörte dem Trust and Safety Council von Twitter an und arbeitete mit der Plattform zusammen, um deren Einsatz als Werkzeug zur Aufstachelung zur Gewalt gegen Randgruppen in Indien zu bekämpfen. "Wir haben ein amerikanisches Unternehmen, das in einem Markt tätig ist, in dem Völkermord betrieben wird", sagte Soundararajan, und fügte hinzu, dass alle Twitter-Angestellten, mit denen ihre Organisation zusammengearbeitet hat, entlassen worden seien.

Mehr rund um Twitter und Elon Musk

Elon Musks Twitter ist wichtig und kaputt zugleich. Es gibt keine alternative Plattform für Menschen, die Twitter seit langem nutzen, um Hilfe zu suchen, Sichtbarkeit zu erlangen und unterstützende Gemeinschaften aufzubauen. Gleichzeitig hat sich Musk aber auch als Gegenspieler einiger dieser Gruppen positioniert.

Viele Nutzer – die nicht ideologisch mit Musk verbandelt sind – haben zugesehen, wie die lebenswichtigen Organe von Twitter langsam abgeschaltet wurden, und sich gefragt, wie sie darauf reagieren sollen. Bleibt man und kämpft um sein Leben, in der Hoffnung, dass die Leute, die vor Musks Kauf dort waren, ihn einfach überleben? Oder ist es an der Zeit, zu gehen?

Katherine Cross, eine Doktorandin an der University of Washington, die sich mit vernetzter Online-Belästigung befasst, vertritt die Ansicht, dass sich Twitter wahrscheinlich nie wieder erholen wird. und dass es an der Zeit ist, die Plattform einfach als eine Seite zu betrachten, die sich an eine "Nischengemeinschaft" von Leuten richtet, die wie Musk denken.

"Wir können Twitter nicht zwingen, etwas zu tun", sagt sie, "Es muss eine neue Vorstellung von seinem Platz im Internet-Ökosystem geben".

(jle)