Wie die afghanische Biometrie-Datenbank in die Hände der Taliban gelangte

Seite 3: 80 Prozent der Bevölkerung

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Laut dem Buch der Expertin Jacobsen sollte AABIS bis 2012 bereits 80 Prozent der afghanischen Bevölkerung erfassen, also etwa 25 Millionen Menschen. Es gibt zwar keine öffentlich zugänglichen Informationen darüber, wie viele Datensätze diese Datenbank bis zum heutigen Zeitpunkt enthält – und weder der Auftragnehmer, der die Datenbank verwaltet, noch Beamte des US-Verteidigungsministeriums haben auf Bitten um eine Stellungnahme reagiert –, aber eine unbestätigte Zahl aus dem LinkedIn-Profil des in den USA ansässigen Programmmanagers für AABIS beziffert die Zahl auf immerhin 8,1 Millionen Datensätze.

AABIS wurde von der einstigen afghanischen Regierung in vielfältiger Weise genutzt. Bei Bewerbungen für Regierungsposten und -funktionen bei den meisten Projekten war eine biometrische Überprüfung durch das System erforderlich, um sicherzustellen, dass die Bewerber keinen kriminellen oder terroristischen Hintergrund haben. Biometrische Überprüfungen waren auch bei der Beantragung von Reisepässen, Personalausweisen und Führerscheinen sowie bei der Registrierung für die Aufnahmeprüfung an den Hochschulen des Landes erforderlich.

Eine weitere Datenbank, die etwas kleiner war als AABIS, war mit dem "e-tazkira", dem elektronischen Personalausweis des Landes, verbunden. Zum Zeitpunkt des Sturzes der Regierung waren nach Angaben der nationalen Statistik- und Informationsbehörde etwa 6,2 Millionen Anträge in Bearbeitung, wobei unklar ist, wie viele Antragsteller bereits biometrische Daten übermittelt hatten. Biometrische Daten wurden auch von anderen Regierungsstellen verwendet – oder zumindest wurde das probiert. Die Unabhängige Wahlkommission setzte bei den Parlamentswahlen 2019 biometrische Scanner ein, um Wahlbetrug zu verhindern – mit fragwürdigen Ergebnissen. Und im Jahr 2020 kündigte das Ministerium für Handel und Industrie an, biometrische Daten von denjenigen zu erfassen, die ein neues Unternehmen anmelden.

Trotz der Vielzahl von Systemen waren diese nie vollständig miteinander verbunden. Eine Prüfung durch die USA im August 2019 ergab, dass APPS trotz der bisher ausgegebenen 38 Millionen Dollar viele seiner Ziele nicht erreicht hatte: Die biometrischen Daten waren noch immer nicht direkt in die Personalakten integriert, sondern nur über die eindeutige biometrische Nummer verknüpft. Auch war das System nicht direkt mit anderen Computersystemen der afghanischen Regierung verbunden, etwa mit dem des Finanzministeriums, das die Gehälter auszahlt. APPS basierte außerdem noch immer auf manuellen Dateneingabeverfahren, was Raum für menschliche Fehler oder Manipulationen ließ.

Afghanistan ist nicht das einzige Land, das so viele biometrische Daten einsetzt. Viele Länder sind besorgt über sogenannte Geisterpersonen – gefälschte Identitäten, die dazu benutzt werden, illegal Gehälter oder andere Gelder zu kassieren. Die Verhinderung solchen Betrugs ist eine gängige Rechtfertigung für biometrische Systeme, sagt Amba Kak, Direktorin für globale Politik und Programme am AI Now Institute und Rechtsexpertin für biometrische Systeme.

APPS sei nicht außergewöhnlich, sagt Kak, die ein Buch über die globale Verwendung von Biometrie herausgegeben hat. Sie sieht eine Kontinuität in vielen ärmeren Ländern. Es sei weithin anerkannt, dass der Besitz von Ausweisdokumenten ein Recht jedes Bürgers sei, doch "biometrische Ausweise als das einzige wirksame Mittel zur legalen Identifizierung zu betrachten" ist ihrer Meinung nach "falsch und sogar ein wenig gefährlich". Kak bezweifelt, dass biometrische Verfahren die richtige Lösung für die Betrugsbekämpfung sind, und fügt hinzu, dass sie oft "nicht evidenzbasiert" sind.

Die Einführung solcher Technologien in Afghanistan wurde jedoch weitgehend durch die militärischen Ziele der USA und die internationalen Finanzmittel vorangetrieben. Auch wenn APPS und andere Datenbanken noch nicht so funktionieren, wie sie sollten, enthalten sie doch viele Terabytes an Daten über afghanische Bürger, die die Taliban auswerten können. Die wachsende Besorgnis über die zurückgelassenen biometrischen Geräte und Datenbanken und die Unmengen anderer Daten über das normale Leben in Afghanistan hat die Sammlung sensibler Daten der Menschen in den zwei Wochen zwischen dem Einmarsch der Taliban in Kabul und dem offiziellen Abzug der amerikanischen Streitkräfte nicht gestoppt.

Diesmal werden die Daten hauptsächlich von wohlmeinenden Freiwilligen in ungesicherten Google-Formularen und Tabellenkalkulationen gesammelt, was entweder zeigt, dass die Lektionen in Sachen Datensicherheit noch nicht gelernt wurden – oder dass sie von allen beteiligten Gruppen erst neu gelernt werden müssen. Singh von der Forschungsgruppe Data & Society sagt, dass der Frage, was mit Daten bei Konflikten oder dem Zusammenbruch von Regierungen geschieht, mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. "Wir nehmen das nicht ernst", sagt er, "aber das sollten wir, vor allem in diesen Kriegsgebieten, in denen Informationen viel Unheil anrichten können."

Kak, die Forscherin zum Thema Biometrie, schlägt vor, dass der beste Weg zum Schutz sensibler Daten darin bestünde, "diese Art von [Daten-]Infrastrukturen ... gar nicht erst aufzubauen". Die Autorin und Journalistin Jacobsen hält es für eine Ironie des Schicksals, dass die Besessenheit des Verteidigungsministeriums, Daten zur Identitätsfeststellung zu nutzen, den Taliban helfen könnte, ihre eigene Version der "Herrschaft über die Identität des Volkes" zu erreichen. "Da ist die Angst vor dem, was die Taliban tun", sagt sie.

Einige Experten sind der Meinung, dass die Tatsache, dass die Datenbanken der afghanischen Regierung nicht sehr interoperabel sind, eine Rettung sein könnte, falls die Taliban versuchen sollten, die Daten zu nutzen. "Ich vermute, dass APPS immer noch nicht so gut funktioniert, was angesichts der jüngsten Ereignisse wahrscheinlich gut ist", teilt Dan Grazier, ein Armeeveteran, der bei der Watchdog-Gruppe "Project on Government Oversight" arbeitet, per E-Mail mit.

Aber für diejenigen, die mit der APPS-Datenbank in Verbindung stehen und sich oder ihre Familienangehörigen nun möglicherweise als Gejagte der Taliban wiederfinden, ist es weniger bittere Ironie als vielmehr echter Verrat.

"Das afghanische Militär hat darauf vertraut, dass seine internationalen Partner, allen voran die USA, ein solches System in ihrem Sinne aufbauen würden", sagt eine der Personen, die mit dem System vertraut sind. "Und jetzt wird diese Datenbank als Waffe der [neuen] Regierung eingesetzt." (bsc)