Wie die afghanische Biometrie-Datenbank in die Hände der Taliban gelangte

Seite 2: Jagd auf Ex-Militärangehörige

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Dann korrigierte er sich: "Ich glaube, wir haben keine Namen von Müttern. Manche Leute geben in unserer Kultur nicht gerne den Namen ihrer Mutter an." Die Taliban haben öffentlich erklärt, dass sie keine gezielten Vergeltungsmaßnahmen gegen Afghanen durchführen werden, die mit der früheren Regierung oder den Koalitionstruppen zusammengearbeitet haben. Doch ihre praktischen Handlungen – sowohl in der Vergangenheit als auch seit ihrer Machtübernahme – sind nicht gerade beruhigend. Am 24. August teilte die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte auf einem Sondertreffen der G7 mit, dass ihr Büro glaubwürdige Berichte über "Hinrichtungen von Zivilisten und Kämpfern der afghanischen Sicherheitskräfte" erhalten habe.

"Es würde mich nicht überraschen, wenn sie sich die Datenbanken angesehen und auf dieser Grundlage Listen gedruckt hätten ... und nun Jagd auf ehemalige Militärangehörige machen würden", sagte uns eine mit der Datenbank vertraute Person. Eine Untersuchung von Amnesty International ergab, dass die Taliban nach der Eroberung der Provinz Ghazni Anfang Juli neun Angehörige der schiitischen Minderheit der Hazara folterten und massakrierten, während es in Kabul zahlreiche Berichte darüber gab, dass Taliban von Tür zu Tür gingen, um Personen zu "registrieren", die für die Regierung oder international finanzierte Projekte gearbeitet hatten.

Lokalen Medienberichten zufolge haben biometrische Daten bei Aktivitäten gegen Regierung und ausländische Organisationen mindestens seit 2016 eine Rolle gespielt. Bei einem weithin berichteten Vorfall aus jenem Jahr überfielen Aufständische einen Bus auf dem Weg nach Kundus und nahmen 200 Fahrgäste als Geiseln, von denen 12 getötet wurden – darunter auch Soldaten der afghanischen Armee, die nach einem Familienbesuch zu ihrem Stützpunkt zurückkehrten. Zeugen berichteten der örtlichen Polizei damals, dass die Taliban eine Art Fingerabdruckscanner verwendeten, um die Identität der Personen zu überprüfen.

Es ist unklar, um welche Art von Geräten es sich dabei handelte, oder ob es dieselben waren, die von den amerikanischen Streitkräften eingesetzt wurden, um die "Identitätskontrolle" zu unterstützen – das Ziel des Pentagons war stets, zu wissen, wer Menschen, mit denen die Armee konfrontiert wurde, sind und ob sie etwas getan hatten.

Die US-Beamten waren besonders daran interessiert, Identitäten zu verfolgen, um Netzwerke von Bombenbauern zu zerschlagen, die sich zuvor erfolgreich der Festnahme entzogen, während ihre tödlichen improvisierten Sprengsätze zahlreiche Opfer unter den amerikanischen Truppen forderten. Mit biometrischen Geräten konnte das Militär Gesichter, Augen und Fingerabdrücke von Personen erfassen und diese einzigartigen, unveränderlichen Daten nutzen, um Menschen wie Bombenbauer mit bestimmten Vorfällen in Verbindung zu bringen. Die Rohdaten gingen in der Regel nur in eine Richtung – von den Geräten zu einer geheimen Datenbank des Verteidigungsministeriums –, während verwertbare Informationen, wie Listen von Personen, nach denen man "Ausschau halten" sollte, wieder auf die Geräte heruntergeladen wurden.

Vorfälle, wie der in Kundus, scheinen darauf hinzudeuten, dass diese Geräte auf breitere Datenbestände zugreifen können, was sowohl das afghanische Verteidigungsministerium als auch amerikanische Beamte wiederholt bestritten haben. "Die USA haben umsichtige Maßnahmen ergriffen, um sicherzustellen, dass sensible Daten nicht in die Hände der Taliban fallen. Diese Daten sind nicht dem Risiko des Missbrauchs ausgesetzt. Das ist alles, was ich dazu sagen kann", schrieb Eric Pahon, ein Sprecher des Verteidigungsministeriums, kurz nach Erstveröffentlichung dieses Artikels in einer per E-Mail versandten Erklärung.

Thomas Johnson, Forschungsprofessor an der Naval Postgraduate School in Monterey, Kalifornien, liefert jedoch eine andere mögliche Erklärung dafür, wie die Taliban biometrische Informationen bei dem Angriff in Kundus verwendet haben könnten. Anstatt die Daten direkt von den HIIDE-Geräten zu übernehmen, sei es möglich, dass Taliban-Sympathisanten in Kabul ihnen Datenbanken von Militärangehörigen zur Verfügung stellten, mit denen sie die Fingerabdrücke abgleichen konnten, sagte er gegenüber MIT Technology Review. Mit anderen Worten: Selbst im Jahr 2016 waren es möglicherweise die Datenbanken und nicht die Geräte selbst, die das größte Risiko darstellten.

Unabhängig davon sind einige Einheimische davon überzeugt, dass die Erfassung ihrer biometrischen Daten sie in Gefahr gebracht hat. Abdul Habib, 32, ein ehemaliger Soldat der afghanischen Armee, der bei dem Angriff in Kundus Freunde verloren hat, machte den Zugang zu biometrischen Daten für deren Tod verantwortlich. Er war so besorgt, dass auch er durch die Datenbanken identifiziert werden könnte, sodass er die Armee – und die Provinz Kundus – kurz nach dem Busangriff verließ.

Als er kurz vor dem Fall von Kabul mit MIT Technology Review sprach, lebte Habib bereits seit fünf Jahren in der Hauptstadt und arbeitete in der Privatwirtschaft. "Als es zum ersten Mal eingeführt wurde, war ich froh über dieses neue biometrische System", sagte er. "Ich dachte, es sei etwas Nützliches und die Armee würde davon profitieren, aber jetzt, im Nachhinein, glaube ich nicht, dass es ein guter Zeitpunkt war, so etwas einzuführen. Wenn sie ein solches System einführen, sollten sie auch daran denken, es abzusichern."

Und selbst in Kabul, so fügte er hinzu, habe er sich nicht sicher gefühlt: "Einem Kollegen wurde gesagt: 'Wir werden Ihre biometrischen Daten aus dem System entfernen' – doch soweit ich weiß können sie sie gar nicht mehr entfernen, wenn sie einmal gespeichert sind." Als wir das letzte Mal kurz vor Ablauf der Abzugsfrist der USA aus Afghanistan am 31. August mit ihm sprachen, sagte Habib, er habe es geschafft, an den Flughafen zu gelangen, um einen der Rettungsflüge zu erreichen. Seine biometrischen Daten waren kompromittiert, aber mit etwas Glück würde er Afghanistan verlassen können, hoffte er.

APPS mag eines der am meisten gefährdeten Systeme in Afghanistan sein, aber es ist nicht das einzige – und nicht einmal das größte. Die afghanische Regierung setzte – mit Unterstützung ihrer internationalen Geberländer – voll auf die Möglichkeiten der biometrischen Erfassung der Bürger. Die Biometrie werde "unseren afghanischen Partnern helfen, zu verstehen, wer ihre Bürger sind ... Afghanistan bei der Kontrolle seiner Grenzen unterstützen und ... der Regierung die 'Herrschaft über die Identität des Volkes' geben", drückte es ein amerikanischer Militärbeamter 2010 überraschend deutlich auf einer Biometriekonferenz in Kabul aus.

Im Mittelpunkt der Bemühungen stand die biometrische Datenbank des Innenministeriums, die als "Afghan Automatic Biometric Identification System" (AABIS) bezeichnet wird. Es ist die biometrische Zentraleinrichtung des Landes. AABIS selbst war dem streng geheimen biometrischen System des amerikanischen Verteidigungsministeriums, dem "Automatic Biometric Identification System", nachempfunden, das zur Identifizierung von Zielen für Drohnenangriffe diente.