"Wir lesen die Zukunft"

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Trotz solcher Punktlandungen – seinen Auftraggebern wird Le Blanc ihr Investment wohl nicht in konkreten literarischen Modellen für Geräte zurückzahlen, die man sofort in Serie produzieren kann. "Das haben wir damals auch nicht erwartet", sagt Professorin Barbara Lenz, die beim DLR das Institut für Verkehrsforschung leitet und mit "Future Life" befasst war. "Das Projekt hat für uns einen anderen Zweck erfüllt: abzugleichen, wie sich die literarischen Visionen und unsere heutige Wirklichkeit ähneln." Im Ergebnis sei es für sie und ihre Kollegen zum Beispiel überraschend gewesen, dass die Schriftsteller bei ihren Schilderungen doch sehr im Rahmen des Möglichen geblieben sind – sie ersannen also kaum Kabinen, mit denen man sich von Ort zu Ort beamen kann. Sondern eher Dinge, die sich irgendwann tatsächlich realisieren ließen. Bei ähnlichen Projekten würde sie künftig allerdings einen anderen Schwerpunkt wählen, schränkt Lenz ein: Statt auf Texte würde sie stärker auf Gemälde, Skizzen und Filme mit Zukunftsvisionen setzen.

Für Le Blanc ist der wichtigste Aspekt seiner Analyse, den Umgang des Menschen mit einer neuartigen Technik frühzeitig erahnbar zu machen – zum Beispiel in der Medizintechnik: Auch die Gesellschaft wird sich nämlich verändern, wenn Menschen sich klonen können oder ihre Gehirne mit künstlicher Intelligenz verbinden. Überlegungen wie diese sind der herkömmlichen Zukunftsforschung weitgehend fremd – weil sie zu spekulativ sind, scheinbar zu weit in die Ferne greifen. Aber genau das, so Le Blanc, habe die Science-Fiction-Literatur der empirischen Zukunftsforschung und der Trendforschung voraus. Von dieser hält Le Blanc ohnehin nicht viel: "Das ist zum großen Teil einfach Scharlatanerie. Den Club of Rome nehme ich da mal aus."

Die Methode der Schriftsteller sei aber mit solchen Vorhersagen nicht vergleichbar: Schriftsteller würden auf Wahrscheinlichkeiten keinen Wert legen, sondern heutiges Wissen ganz einseitig extrapolieren. "Die Science-Fiction sagt nicht die Zukunft voraus, sondern sie malt sie aus, und zwar in vielen Versionen", sagt Le Blanc. Heraus komme ein kreatives Spiel mit den Möglichkeiten. Etwa mit holografischen Nachbildungen von Menschen, wie sie "Star-Trek"-Fans vom "Holodoc" kennen: Was wäre eigentlich, wenn eine Kopie eines Arztes sich einfach an jeden beliebigen Ort beamen könnte und das medizinische Wissen von 3000 Kulturen und 50 Chirurgen vereinen würde? "Es könnte bei Konferenzen dann ganz andere Gesprächsformen geben, man könnte den größten Blödmann ganz einfach wegklicken. All das würde eben auch soziale Folgen haben – und die kann ein Schriftsteller viel besser aufzeigen als jede Studie."

Thomas Le Blanc war früher Science-Fiction-Fan und hat auch selbst einige Werke verfasst. Wie viele andere Autoren hat er einen naturwissenschaftlichen Hintergrund: ein Lehramtsstudium der Mathematik, Physik und Pädagogik. Schon während seines Studiums hatte er mit dem Schreiben begonnen – sowohl eigener Erzählungen als auch von Artikeln in der Publikumspresse über die phantastische Literatur. "Das galt in meiner Kindheit, als ich mir von meinem Taschengeld die ersten Science-Fiction-Bücher gekauft habe, noch als Trivialliteratur", erzählt der heute 61-Jährige. Durch seine Leidenschaft rutschte er ins Verlagsgeschäft und erwarb sich einen Ruf als Experte für diese Sparte der Literatur.

"Ich habe mich zu einer Art Spinne im Netz der Verlage entwickelt", kommentiert Le Blanc seine heutige Position. Er ist inzwischen fast so etwas wie ein freier Literaturprofessor für sein Spezialgebiet. Über viele Jahre hat er in seiner Geburtsstadt Wetzlar ein Institut aufgebaut, das inzwischen 13 Angestellte ernährt. Insgesamt ist die Science-Fiction-Szene in Deutschland allerdings sehr überschaubar, wie er meint: "Es gibt vielleicht 50 bis 100 Autoren, die regelmäßig schreiben, ein Dutzend größerer Verlage und dann noch einen Haufen Kleinverlage, die sich mit Mühe über Wasser halten." Man trifft sich also immer wieder bei Seminaren und Tagungen. Die wichtigste richtet Le Blanc sogar selbst aus: die Wetzlarer Tage der Phantastik, die im letzten September schon zum 32. Mal stattfanden.

Auf Deutsch erscheinen monatlich ungefähr zehn bis zwanzig neue Romane der Phantastischen Literatur. Die Autoren produzieren gute wie schlechte, realistische wie abgehobene Ideen. Um diesen Kosmos für seine Future-Life-Forschungszwecke in den Griff zu bekommen, hat Le Blanc sich folgende Systematik ausgedacht: Zunächst werden – je nach Projektpartner – bestimmte Themenziele festgelegt. Ein Unternehmen, das sich auf intelligente Häuser spezialisiert hat, interessiert sich naturgemäß besonders für literarische Beispiele aus dem Wohnumfeld. Ein Telekommunikationsanbieter oder eine Softwareschmiede will ganz andere Ideen vorgelegt bekommen – also werden auch die Leseziele entsprechend definiert. In einem vierteljährlichen Rhythmus trifft sich Le Blanc mit den Projektpartnern, um Grenzen und Vertiefungen festzulegen. "Mit dem DLR haben wir uns zum Beispiel auf den terrestrischen Verkehr beschränkt", sagt Le Blanc.