"Wir lesen die Zukunft"

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In einem zweiten Schritt wählt eine Arbeitsgruppe aus, welche Werke für welche Zwecke überhaupt infrage kommen. Alles, was nur auf Action angelegt ist, scheidet genauso aus wie rein zwischenmenschliche Handlungen ohne technologischen Hintergrund oder Texte, die auf magischen Weltbildern beruhen. Auch Genrezeitschriften, Fan-Magazine und Sekundärwerke werden ausgewertet. Und natürlich zapft Le Blanc sein Netzwerk von Science-Fiction-Fans und Wissenschaftlern an, um an möglichst viele konkrete Lesetipps zu kommen.

Externe Rechercheure zieht der Institutsleiter hinzu, wenn es auf die nächste Etappe geht: das Querlesen. Hier fängt die wirkliche Fleißarbeit an. Eine Handvoll Mitarbeiter prüft Hunderte von Büchern und liest sie teilweise auch komplett durch. Zwei festangestellte Kräfte, eine Literatur- und eine Naturwissenschaftlerin, extrahieren schließlich die Stellen, die für die Projektpartner von Interesse sein könnten. Die gefundenen Ideen werden möglichst ausführlich beschrieben, gute Textstellen zitiert. Schildert der Autor, welche Nebenwirkungen eine Erfindung mit sich bringt, werden natürlich auch diese notiert. Auf diese Weise entsteht zu jeder Idee ein Datenblatt, das kategorisiert wird und Querverweise enthält. So können am Ende auch ähnliche Ideen verglichen werden.

Ob man die ganze Arbeit heutzutage nicht viel besser mit einer Volltextsuche erledigen könnte? Le Blanc hält das für ausgeschlossen. "Für Novitäten existieren noch keine Suchbegriffe, eine elektronische Auswertung wäre also unergiebig." Im Übrigen sei das menschliche Gehirn einem elektronischen immer noch weit überlegen, jedenfalls bei dieser Aufgabe.

Die Technik von morgen vorauszudenken mit den Methoden von gestern – Thomas Le Blanc stört sich nicht an solchen Scheinwidersprüchen. Eine weitere Paradoxie ist, dass Science-Fiction die Zukunft nicht nur ausmalen, sondern sogar verändern kann: Gerade die schlimmsten Vorhersagen werden nicht Wirklichkeit, wenn rechtzeitig vor ihnen gewarnt wird. Das jedenfalls hoffen die Schriftsteller, das hofft auch Le Blanc. Das beste Beispiel ist für ihn Georg Orwells Dystopie "1984". Der 1948 verfasste Roman habe einen bemerkenswerten Anteil daran, dass wir im wirklichen 1984 eben nicht in einem Überwachungsstaat leben mussten, glaubt Le Blanc. "Die Science-Fiction redet eben nicht nur von der Zukunft, sondern gerade auch von der Gegenwart."

In der aktuellen Science-Fiction sind es laut Le Blanc weniger Datenschutzfragen als vielmehr düstere Klimaszenarien und überbordende medizinische Möglichkeiten, welche die Schriftsteller umtreiben. Und natürlich die Kernfrage der Science-Fiction: Verlassen wir irgendwann die Erde? Für diesen illustren Aspekt hat sich Le Blanc übrigens auch schon ein Schwesterprogramm von "Future Life" ausgedacht. Der Titel des Projekts weist allerdings noch ein bisschen weiter in die Zukunft. Er lautet: "Alien Life". (bsc)