Zahlen, bitte! Die erste Tempo-30-Zone in Deutschland
Buxtehude führte 1983 erstmals eine Tempo-30-Zone ein, um Unfälle einzudämmen. Die gemütliche Art zu fahren ist seitdem beliebt wie umstritten.

Tempo 30 ist ein Zankobjekt in der Verkehrsplanung: Befürworter sehen darin einen weiteren Schritt, um Innenstädte sicherer und lebenswerter zu machen, Kritiker sehen es als Gängelung des Autofahrers. Dabei ist das Konzept der verlangsamten Straßen in Deutschland gerade einmal 40 Jahre alt.
Am 14. November 1983 wurde in der beschaulichen Hansestadt Buxtehude die Neubausiedlung Sagekuhle zur verkehrsberuhigten Zone umgebaut. Von da an durfte die Konopkastraße nur noch mit höchstens 30 Stundenkilometern befahren werden. Zur Fahrbahnverengung wurden 200 große Abwasserrohre so auf die Straßen gestellt, dass Autos genauso wie Lastkraftwagen abbremsen mussten.
Kreuzungen mussten vorsichtig befahren werden, denn überall galt rechts vor links. Anwohner beschwerten sich, dass man es nur noch mit einem Kompass durch die unübersichtlich gewordene Straßenführung schaffen würde. Als die Rohre mit Bäumchen bepflanzt wurden und Bodenwellen hinzukamen, hatten die Einwohner der 40.000-Einwohnerstadt ihren Frieden mit dem bundesweit einmaligen Experiment geschlossen und sich an das Tempo gewöhnt. Befragt durch den Allgemeinen Automobilclub Deutschland (ADAC) gaben sie an, dass Fahrzeuge gleichmäßiger und leiser fuhren.
Unfallhäufung inspirierte zu Tempo 30
Die Idee mit der geschwindigkeitsbegrenzten Zone hatte der Stadtbaurat Otto Wicht, der seit 1966 für die Stadtentwicklung von Buxtehude zuständig war. Während seiner Amtszeit verdoppelte sich die Einwohnerzahl von Buxtehude. Besonders die Verkehrsunfälle in den Neubausiedlungen waren ihm ein Dorn im Auge. Weil Appelle zum langsameren Fahren nichts nutzten, bremste Wicht mit Rohren die Fahrzeuge aus, was ihm den Spottnamen "Kübel-Otto" einbrachte, was ihn nicht störte.
(Bild:Â CC BY-SA 4.0, Tokota)
Er erklärte, dass Städtebau ein Spiegel der Gesellschaft sei und die Probleme der Schwächsten berücksichtigen müsse. Der Erfolg ließ nicht auf sich warten: 1987 wurde Buxtehude Bundessieger im ADAC-Wettbewerb "Sicherheit für Radfahrer und Fußgänger", 1989 erhielt Wicht den Verkehrssicherheitspreis in Gold. Mit seiner Sturheit ähnelte Wicht dem "Schwarzwälder Holzhacker" Oskar Rümmele, dem wir das innerstädtische Tempo 50 verdanken.
Die Idee einer Tempo-30-Zone wurde 1990 in die Straßenverkehrsordnung aufgenommen, allerdings begrenzt auf 1000 Meter Länge. Diese Beschränkung fiel erst 2001. Eine weitere Beschränkung ist nicht bei allen Anwohnern beliebt: Mit dem Ausbau von Straßen einer Tempo-30-Zone fallen häufig einige Parkplätze weg. In einer Auto-verrückten Gesellschaft ist schnell die Rede vom Parkplatzklau.
Von Tempo 30 bis zum verkehrsberuhigten Bereich
Heute ist Buxtehude Mitglied bei der Initiative Lebenswerte Städten und Gemeinden und hat Tempo 30 fast überall eingeführt. Die Altstadt, die unter der Leitung von Otto Wicht saniert wurde, ist sogar eine Tempo-20-Zone. Hier strebt man Tempo 10 an, das dann für alle gilt, somit auch für Radfahrer, die dies als Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit sehen. Tempo 10 wären für Begegnungszonen Pflicht, sogenannte Shared Spaces, wie sie vom niederländischen Verkehrsplaner Hans Monderman entwickelt wurden: Verkehrsschilder werden abgeschafft und jede/r nimmt auf jeden Rücksicht. Im niedersächsischen Bohmte hat man mit diesem Konzept gute Erfahrungen gemacht. Mittlerweile sind solche verkehrsberuhigten Bereiche weit verbreitet.
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Was Tempo 30 anbelangt, so gibt es Fortschritte. Im Oktober hat der Bundestag eine Änderung des Straßenverkehrsgesetzes beschlossen, dass die Einrichtung einer Tempo-30-Zone auch mit dem Klima- und Umweltschutz, mit der Gesundheitssituation oder der städtebaulichen Entwicklung begründet werden kann, nicht nur (wie bisher) mit der Verkehrsberuhigung bzw. Gefährdung von Verkehrsteilnehmern.
Tempo 30 ist in Paris die Regel
Vielen geht das nicht weit genug, denn nach wie vor können die deutschen Kommunen nicht einfach flächendeckend Tempo-30-Zonen einführen. Da hatte es die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo einfacher, die mit Ausnahme der Ringstrasse Périphérique und einiger Ausfallstraßen im Jahr 2021 flächendeckend in ganz Paris Tempo 30 einführte. Ganz ohne die in Frankreich sonst so beliebten Bremsanreize durch Fahrbahnschwellen wie sogenannte "Berliner Kissen" oder "schlafenden Polizisten" ist so die Verkehrssicherheit landesweit drastisch verbessert worden.
Noch energischer ging man in Spanien vor, nachdem ein Modellversuch in Barcelona erfolgreich war: 2021 wurde Tempo 30 innerstädtisch auf allen Straßen eingeführt, die nur eine Fahrspur pro Richtung aufweisen. Das sind nach Angaben des ADAC 80 Prozent aller Stadtstraßen.
Vielleicht gelingt Deutschland im Zeichen der Energiewende eine ähnliche Kehrtwende. Innerstädtisch Tempo 30 statt 50 als Default, nur auf den Ausfallstraßen etwas schneller – das wäre für viele Fußgänger und Radfahrer ein Schritt nach vorn.
(mawi)