Zu lange Leitung?

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Vielversprechender sind andere Ideen. Wenn Strom immer stärker regional erzeugt wird – warum ihn dann nicht auch vermehrt regional verbrauchen? Speichern etwa Batterien überschüssigen Strom aus Wind- oder Solarparks an Ort und Stelle, muss weniger Energie über teure HGÜ-Leitungen abtransportiert werden. Die Gesellschafter des Bürgerwindparks Braderup-Tinningstedt bei Husum zeigen, dass dieses lokale Lastmanagement schon heute funktioniert. Sie haben ihren 20-Megawatt-Park mit einer Lithium-Ionen-Batterie mit zwei Megawatt und einer Vanadium-Redoxflow-Batterie mit 325 Kilowatt Leistung gekoppelt. Die von der Hybridbatterie vorrätig gehaltene Kapazität wird dem Netzbetreiber gemeldet und kann auf elektronische Anfrage hin zügig und automatisch zur Verfügung gestellt werden. "So lassen sich Spannungsschwankungen ausgleichen, die anderenfalls das Stromnetz beschädigen können", erklärt Jan Martin Hansen, Geschäftsführer der Betreibergesellschaft.

Werden mehrere dezentrale Stromproduzenten und Speicher über eine Steuerung zu einem virtuellen Kraftwerk verbunden, entlastet das die Netze noch wirkungsvoller. Fällt ein Erzeuger wegen Dunkelheit oder Flaute aus, erhält ein anderer im Cluster das Startsignal. Auch Betreiber privater Blockheizkraftwerke (BHKW) können sich an einem solchen Kraftwerk beteiligen. Vattenfall hat in Berlin bereits ein Netz von BHKWs errichtet, die als virtuelles Kraftwerk Schwankungen beim Solar- und Windstrom ausgleichen können.

Die BHKWs erzeugen fehlende Kilowattstunden für die nötige Netzstabilität und produzieren dabei Wärme, die sich in den Gebäuden, in denen sie stehen, nutzen oder speichern lässt. Siemens wiederum koppelt in München BHKWs mit Wind und Wasserkraft und entwickelt automatische Regelungen für das Mittelspannungsnetz. Derartige virtuelle Kraftwerke böten auch einen Ausweg aus Bayerns Energiedilemma. Bis 2022 verliert der Freistaat 5.000 Megawatt Kernkraftwerks-Kapazität, die mit SuedLink und der Süd-Ost-Passage ausgeglichen werden sollen. Würde Bayern mehr Energie selbst produzieren, ließe sich zumindest die Ostleitung sparen, sagt Ökonom Jarass.

Damit gerät ein Teil des Stromsystems in den Fokus, das in öffentlichen Debatten um den Trassenbau selten auftaucht: das Verteilungsnetz. Es erhält seinen Strom vom Übertragungsnetz, dessen Ausbau derzeit so heftig in der Diskussion steht, und leitet ihn zu den einzelnen Haushalten. Mit der Energiewende hat dieses Netz eine völlig neue Aufgabe bekommen: Ursprünglich allein für den Transport der Energie zu den Verbrauchern konzipiert, muss es nun zusätzlich große Mengen an Strom aufnehmen – die auch noch stark schwanken. Für die Betreiber wird es damit aufwendiger, das Netz stabil zu halten.

Das betrifft vor allem die unterste Ebene des Verteilnetzes, das Niederspannungsnetz. An ihm hängen 98 Prozent aller hierzulande installierten Solaranlagen. So sind zum Beispiel allein im bayerischen Teil Schwabens mittlerweile 67.000 Photovoltaikanlagen in Betrieb. Wenn dort die Sonne lacht, fluten zeitweise bis zu 1,2 Gigawatt in die Leitungen des lokalen Netzbetreibers LEW Verteilnetz. In der Folge passiert es immer häufiger, dass Strom aus den Verteilnetzen in das Übertragungsnetz abfließt. Im Netzgebiet der LEW kam es 2009 an neun Tagen zu einer solchen Rückspeisung. Vier Jahre später war das schon an 85 Tagen der Fall. Die Netzsteuerung wird damit komplexer.

Manche Netzbetreiber reagieren auf die neue Situation, indem sie die konventionellen Transformatoren in den Ortsnetzstationen durch flexiblere Anlagen ersetzen. Während die althergebrachten Geräte nur eine vergleichsweise geringe Toleranz gegenüber Schwankungen bei der Netzspannung zeigen, sind die regelbaren Ortsnetztrafos deutlich anpassungsfähiger. "Sie können automatisch auf Spannungsschwankungen reagieren, die durch fluktuierende Einspeisungen der Solaranlagen verursacht werden", erklärt Peter Schwaegerl, Leiter der Netzleitstelle der LEW. Die Technik ist allerdings vergleichsweise teuer.

Viele Betreiber setzen daher lieber auf die Verstärkung und Erweiterung der bestehenden Netze, etwa durch einen größeren Leiterquerschnitt, das Verlegen paralleler Leitungen oder gar den Bau neuer Kabeltrassen. Aber auch das kostet viel Geld. Die Deutsche Energie-Agentur (dena) hat vor zwei Jahren in einer Studie ausgerechnet, dass bis 2030 abhängig vom weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien insgesamt 27,5 bis 42 Milliarden Euro in die Verteilnetze fließen müssen.

Beide Ansätze lassen zudem einen zentralen Akteur im Verteilnetz außer Acht: den Endkunden. Wenn sich nämlich dessen Verbrauch an der lokalen Erzeugung orientiert, wird das Verteilnetz entlastet, was wiederum den Ausbaubedarf mindert. Dies ist der Leitgedanke des wohl bundesweit ambitioniertesten Pilotprojekts zur Modernisierung der Verteilnetze, das zurzeit in der Wertachau stattfindet, einer einsam gelegenen Einfamilienhaus-Siedlung dreißig Kilometer südlich von Augsburg. Dort hat die RWE-Tochter LEW zusammen mit Partnern aus Industrie und Forschung das Niederspannungsnetz mit einem komplexen Steuersystem versehen.

Zusätzlich haben die Planer die 110 teilnehmenden Haushalte mit Smart Metern ausgestattet und in einigen Häusern kleine elektrische Solarspeicher installiert. 55 fernsteuerbare Waschmaschinen, Trockner und Geschirrspüler, die sich die Teilnehmer mit finanzieller Unterstützung der LEW angeschafft haben, sind in den Verbund integriert, dazu sechs bestehende Wärmepumpen. Darüber hinaus haben die Projektpartner in der Siedlung eine Car-Sharing-Plattform mit drei Elektroautos eingerichtet und einen zentralen Blei-Gel-Batteriespeicher mit einer Leistung von 70 Kilowatt.

Herzstück des Systems ist der in der Ortsnetzstation installierte "Smart Operator". Die taschenbuchgroße Box erfasst im Minutenabstand die Einspeisung der 26 Solaranlagen in der Wertachau, die Last der einzelnen Haushalte, den Ladestand der Speicher und die lokale Sonneneinstrahlung. Zudem greift sie auf Wetterprognosen zu. In den Haushalten sind kleine Steuergeräte installiert. Sie erstellen täglich mögliche Lastprofile für die folgenden 24 Stunden. Die Basis bilden historische Verbrauchsdaten sowie die Programmierung der Elektrogeräte durch die Bewohner. Ein Algorithmus wertet all diese Daten aus und weist den Haushalten dann automatisch individuelle Lastprofile zu. Sie sollen dafür sorgen, dass möglichst viel Solarstrom im Haus selber oder in den Nachbargebäuden verbraucht wird. Die Steuergeräte in den Haushalten setzen die Vorgaben schließlich um, etwa indem sie den Geschirrspüler innerhalb der von den Bewohnern vorgegebenen Zeitspanne einschalten.

"Aufgabe des Algorithmus ist es, automatisch die aus Netzsicht beste Entscheidung zu finden", erläutert Philipp Goergens von der RWTH Aachen, der die Software mitentwickelt hat. Ein generelles Zwischenfazit mag LEW-Projektleiter Roland Dölzer noch nicht ziehen. "Die Entwicklungsarbeit hat im Grunde erst so richtig letzten Juli begonnen." Mit der Stabilität des Systems ist er aber zufrieden: "Nach den üblichen Anfangsschwierigkeiten läuft es trotz seiner Komplexität störungsfrei." Nadja Koch-Hadek, eine der Projektteilnehmerinnen, kann das bestätigen. Im Alltag mache sich die Fernsteuerung der Verbraucher kaum bemerkbar. "Der einzige Unterschied zu früher ist, dass wir uns jetzt Gedanken machen müssen, bis wann wir die Wäsche gewaschen oder das Geschirr gespült haben wollen." (bsc)