Zu lange Leitung?

Um die Energiewende zu meistern, wollen die großen Stromnetzbetreiber fast 3.000 Kilometer neue Höchstspannungstrassen in Deutschland bauen. Experten halten das für übertrieben.

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Von
  • Ralph Diermann
  • Sascha Rentzing
Inhaltsverzeichnis

Um die Energiewende zu meistern, wollen die großen Stromnetzbetreiber fast 3.000 Kilometer neue Höchstspannungstrassen in Deutschland bauen. Experten halten das für übertrieben.

Die Konfliktlinien sind zentimeterdick, schwarz, bestehen zumeist aus mehreren Leitungsbündeln und werden mehr als 70 Grad warm, wenn Strom in voller Leistung durch sie hindurchjagt. Alle wollen sie haben – aber keiner in der Nähe seines Hauses. Insofern ist der Begriff "Stromautobahn" völlig zutreffend für die Trassen, die künftig Energie von der Nordseeküste in den Süden Deutschlands bringen sollen. Die große Frage ist: Wie viele dieser neuen Leitungen braucht Deutschland für den Umstieg auf erneuerbare Energien tatsächlich?

Während in der Bevölkerung der Widerstand gegen neue Trassen wächst, halten die vier für den Netzausbau verantwortlichen Netzbetreiber Tennet, Amprion, 50Hertz und TransnetBW an ihren ehrgeizigen Ausbauzielen fest. Um Versorgungsengpässe zu vermeiden, sei der Bau von drei Höchstspannungsleitungen nach Süddeutschland Grundvoraussetzung, heißt es in ihrem im November veröffentlichten Entwurf für einen neuen Netzentwicklungsplan. "Ohne sie ist die Energiewende nicht zu schaffen", erklärt Tennet-Sprecherin Ulrike Hörchens. In dieser Eindeutigkeit sei das "falsch", sagt dagegen der Infrastruktur-Experte Christian von Hirschhausen von der Technischen Universität Berlin. "Unsere Rechnungen zeigen, dass sie aus energiewirtschaftlicher Perspektive gar nicht notwendig sind."

Die Stromtrassen sind die großen Konfliktlinien der Energiewende – gleich nach der Angst um ausufernde Energiepreise. Gegenüber stehen sich Bürger und Netzbetreiber, Forscher und Ingenieure. Die einen wollen bremsen, die anderen drücken aufs Tempo, da die Trassen spätestens mit Auslaufen des letzten deutschen Atomkraftwerks im Jahr 2022 in Betrieb sein sollen. Die Vorplanungen für die als Hauptschlagader der Energiewende gedachte "SuedLink"-Verbindung sind bereits abgeschlossen. Sie soll über zwei HGÜ-Leitungen (Hochspannung-Gleichstrom-Übertragung) bis zu vier Gigawatt Windstrom von Schleswig-Holstein nach Bayern transportieren. Im Dezember hat Tennet Vorschläge für den Verlauf der Leitung zwischen Itzehoe und Schweinfurt bei der Bundesnetzagentur eingereicht. Damit kann das offizielle Planungs- und Genehmigungsverfahren für SuedLink beginnen.

Zwei weitere Gleichstromtrassen mit jeweils zwei Gigawatt Transportkapazität sollen parallel zur 800 Kilometer langen SuedLink-Trasse verlaufen. Im Westen ist eine als Ultranet bezeichnete HGÜ-Leitung von Osterath im rheinischen Braunkohlerevier nach Philippsburg bei Karlsruhe geplant, im Osten soll die sogenannte Süd-Ost-Passage Magdeburg und Gundremmingen verbinden. Zusätzlich zum Bau der neuen Höchstspannungsleitungen mit 2.800 Kilometern Gesamtlänge sollen 2.900 Kilometer im bestehenden Netz optimiert werden. Mindestens 22 Milliarden Euro sind für alle Maßnahmen veranschlagt. Die Bundesnetzagentur muss die Vorschläge noch genehmigen. Später werden Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat darüber beraten und können noch ihr Veto einlegen.

Die Gegner der Trassen haben gute Argumente auf ihrer Seite. Denn die Bundesregierung hat ihre energiepolitischen Ziele in der Zwischenzeit geändert. Vor allem die Kohleenergie soll hierzulande eine geringere Rolle spielen, als ihr die Netzplanung zuspricht. Deutschland will seine Kohlendioxid-Emissionen bis 2020 im Vergleich zu 1990 um 40 Prozent senken – dieses Ziel wird nach aktuellem Stand deutlich verfehlt.

Um es doch noch zu erreichen, sollen die Energieversorger nach dem im Dezember verabschiedeten Klimaschutzpaket der Bundesregierung in den kommenden fünf Jahren mindestens 22 Millionen Tonnen CO2 einsparen. Die Vorgaben könnten das kurzfristige Aus für etwa acht alte Braun- und Steinkohlekraftwerke bedeuten. Gerade die Süd-Ost-Passage hält von Hirschhausen von der TU Berlin daher für verzichtbar. Sie sei dafür ausgelegt, auch bei starker Windstromproduktion noch möglichst viel Braunkohlestrom einzuspeisen. Das zeige sich unter anderem daran, dass die Netzbetreiber mit einem neuen Braunkohlekraftwerk am Standort Profen in Sachsen-Anhalt rechneten. "Die Süd-Ost-Passage dient somit nicht der Versorgungssicherheit in Süddeutschland, sondern maximierten Braunkohle-Exporten aus Ostdeutschland", sagt von Hirschhausen.

Auch die westliche Trasse Ultranet soll vor allem Kohlestrom aus dem Kölner Braunkohle-Revier in den Süden bringen. Mit dem Auslaufen der Braunkohle-Verstromung könnte diese Leitung ebenfalls überflüssig werden, da kaum Windstrom aus Nordrhein-Westfalen abzutransportieren ist. Zudem soll Ultranet durch das stark bewohnte Rhein-Main-Gebiet verlaufen – in Gemeinden dieser Region sowie bei Mannheim formiert sich heftiger Widerstand gegen die als Freileitung geplante Trasse.

Gegen drei Trassen spricht auch, dass im Norden vermutlich weniger Windstrom anfallen wird als angenommen. Die Bundesregierung hat ihre Ausbauziele für die Windenergie mit der letzten Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im August reduziert: Ab diesem Jahr erlauben die Vorgaben an Land nur noch jährliche Neuinstallationen von 2.500 Megawatt. 2014 lag der Zubau noch bei rund 3.500 Megawatt. Beim Ermitteln der Leistungskapazitäten für den Netzentwicklungsplan sei zudem kalkuliert worden, auch die letzte Kilowattstunde Windstrom einzuspeisen, kritisiert der Ökonom Lorenz Jarass von der Fachhochschule Wiesbaden. "Würde man die Windspitzen kappen, würde sich der Netzausbau stark reduzieren."

Jarass hat die Situation in Süd-Thüringen und Nord-Bayern bereits genauer untersucht, wo im Korridor Erfurt–Coburg die umstrittene "Südthüringen-Leitung" quer durch den Thüringer Wald gebaut wird. Sie soll eine vorhandene Fernleitung ergänzen. Für die bestehende Trasse analysierte Jarass die Daten des Netzbetreibers 50Hertz für 2012 und 2013. Er wollte wissen, wann sehr starke Belastungen auftraten – wann ihre Kapazität also zu mehr als 70 Prozent ausgelastet war. Ergebnis: Kritische Stunden gab es durchaus. Aber der Grund war nicht die Einspeisung von Wind- und Sonnenstrom, dessen Anteil im ostdeutschen Netz in diesen Stunden nur bei 20 bis 50 Prozent lag. Sondern der zusätzlich zur Windkraft ins Netz gespeiste Braunkohle-Strom. Nur während drei Sturmfronten im Frühjahr 2013 hatte Wind laut Jarass jeweils für fünf bis acht Stunden einen Anteil von 50 bis 60 Prozent.

In solchen Situationen könnten Windparks künftig vom Netz gehen. Die Anlagen bei Leistungsspitzen vorübergehend zu drosseln, könne sich als eine sinnvolle Alternative zum Netzausbau erweisen, heißt es in einem Positionspapier des Bundesverbands WindEnergie. Die Bedingung der Windmüller: Sie wollen die abgeregelten Kilowattstunden als "Netzdienstleistung" vergütet haben. Schließlich könnte die Methode im Gegenzug Geld sparen. Um die Übertragungsnetze bei stark schwankender Erzeugung zu stabilisieren, regeln bisher Großkraftwerke ihre Produktion häufiger kurzfristig hoch und herunter. Sie arbeiten damit ineffizent, ihre Betriebskosten steigen. Als Zweites fordern die Windmüller, dass die Netzbetreiber vorher alle anderen Optionen der Netzoptimierung ausschöpfen. Ansatzpunkte für Verbesserungen gibt es einige, etwa das Freileitungs-Monitoring oder der Einsatz hitzeresistenter Hochtemperatur-Leiterseile. Ob hier jedoch großes Potenzial liegt, ist fraglich.