Zurück in der Realität

Augmented Reality hält endlich Einzug in die Industrie – fast zwei Jahrzehnte nach ersten Pilotprojekten. Aber die ganz großen Hoffnungen blieben auf der Strecke.

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Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Bernd Müller

In der Lagerhalle des Volkswagenwerks in Emden warten Dutzende Frontscheiben darauf, am Band in die Karosserie eines Passats eingesetzt zu werden. Mit Saugnäpfen greift der Lagerist die nächste Scheibe – aber ist es wirklich die richtige? Um das festzustellen, brauchte der Mitarbeiter früher einen Scanner, der den Barcode der Scheibe mit der benötigten Teilenummer abgleicht. Doch solche Geräte sucht man heute in dem Lager vergeblich.

Jeder Mitarbeiter trägt stattdessen eine Google Glass, die als Scanner dient. Die Kamera in der Datenbrille aktiviert ihr Träger per Sprachkommando. Ist der Barcode falsch, färbt das Display in der Brille die Stelle rot ein, wo sich auf der Scheibe der Code befindet. Der Abgleich geschieht, indem sich virtuelle Informationen aus einer Datenbank mit dem realen Bild überlagern. Ist dagegen alles in Ordnung, leuchtet der Barcode grün.

Monatelang hat Nima Shafaghat, Leiter Informationsprozesse Logistik im Volkswagenwerk Wolfsburg, mit 30 Lagerarbeitern an dem Pilotprojekt gearbeitet – offenbar mit Erfolg. Denn seit November 2015 nutzen die Lageristen im Emdener Werk die Google Glass im Regelbetrieb. Die Datenbrille zeigt die Anzahl der Teile mit deren Sachnummer an sowie das Fach, aus dem das Teil entnommen werden soll. Gleichzeitig blendet sich bereits der nächste Auftrag ein. Unterm Strich ergebe sich eine merkliche Zeitersparnis, verspricht Shafaghat. Und die Kollegen ziehen mit. Die Eingewöhnungszeit dauerte vier Wochen, seitdem tragen die Mitarbeiter die Brille während der ganzen Schicht.

Augmented Reality – die Überlagerung von virtuellen mit realen Bildern – wird in der Industrie seit den 1990ern propagiert, hauptsächlich um Mitarbeitern in der Produktion Arbeitsschritte beizubringen. Doch die ersten Datenhelme waren mehrere Kilogramm schwer und zeigten nicht mehr an als ein paar grobschlächtige, ruckelnde Pfeile. Heutige Datenbrillen sind deutlich leichter und leistungsstärker.

Allerdings sind auch die Google-Brillen für solche Zwecke nur eingeschränkt einsetzbar, denn sie sind mangels großem Sichtfeld nicht geeignet, umfangreiche grafische Objekte einzublenden. Erweiterte Realität wird oft mit diesen Datenbrillen gleichgesetzt, obwohl sie dafür ursprünglich gar nicht konzipiert wurden. Besser auf die Anwendungen der Industrie spezialisiert ist der Helm von DAQRI, einem Unternehmen in Los Angeles. Vinci Energies in Frankfurt nutzt den DAQRI-Helm – Schutzhelm, Computer und Display in einem –, um Hinweise zur Bedienung seiner Bioreaktoren einzublenden.

Der Helm erkennt mit einem Temperatursensor, wenn der Bioreaktor überhitzt, und färbt das betreffende Teil rot ein. Weiter will Microsoft mit seiner HoloLens gehen: Sie zeigt dreidimensionale Objekte im realen Raum. Das soll Konstrukteuren helfen, ihre Entwürfe besser einzuschätzen oder Abläufe in Fabriken zu optimieren. Microsoft arbeitet dazu mit Autodesk zusammen, einem Anbieter von Konstruktionssoftware. Wann es HoloLens zu kaufen gibt, ist unklar, in diesem Jahr sollen zumindest Entwickler ein Exemplar bekommen.

Ob den futuristischen Datenbrillen damit der erhoffte Durchbruch gelungen ist, darf jedoch bezweifelt werden. Die ersten Pioniere jedenfalls sind mittlerweile wieder ernüchtert. Die Würzburger Firma Itizzimo etwa hatte ein System für die Lagerlogistik entwickelt, bei dem die Mitarbeiter über eine Datenbrille Hinweise bekommen, welches Paket sie aus dem Regal ziehen müssen. Die Kamera scannt den Barcode und bucht das Teil aus dem Lagerbestand des SAP-Systems aus – also ähnlich wie das, was Volkswagen in seinem Projekt gerade demonstriert hat. Doch die Akzeptanz war nicht so wie erhofft.

"AR um AR willen hat sich nicht durchgesetzt, der Fokus lag zu sehr auf den Brillen", sagt Itizzimo-Sprecherin Anne Prokopp. Man konzentriere sich nun mehr auf das mobile Bereitstellen von Informationen auf Tablet oder Smartphone, so Prokopp. Das können virtuelle Konstruktionsbilder (CAD) sein, mit deren Hilfe ein Bauteil erkannt wird. Oder betriebswirtschaftliche Informationen aus einem SAP-System. Beispielsweise müsse ein Werker oft Wartungsprotokolle anlegen. Jetzt arbeitet er nicht mehr wie in den Anfängen von Augmented Reality einfach nur eine Anleitung ab, sondern bestätigt sogleich am Touchscreen, dass er die vorgegebenen Schritte ausgeführt hat. Die Handgriffe können zudem per Video aufgezeichnet und in einer Datenbank gespeichert werden, etwa für spätere Reklamationen.

Itizzimo ist damit dort angekommen, wo Bosch von vornherein die Zukunft gesehen hat. Während andere dachten, man müsse für Augmented Reality alles über Bord werfen, verfolgte der Konzern gleich zu Beginn den bodenständigen Ansatz über Smartphone und Tablet. Das nämlich hat viele Vorteile: Auf den Geräten sind Kamera, Bildschirm und Bedienoberfläche ohnehin in einem Gerät vereint, und die Bedienung kennen die meisten Menschen aus dem Alltag. Der Nutzer richtet die Kamera auf das Objekt – zum Beispiel ein Auto in der Werkstatt –, das Gerät zeigt das Realbild, erkennt zudem die Position und weist defekte Teile im Auto aus, auf dem Bildschirm eingefärbt und mit Teilenummer und Einbauhinweisen versehen. Laut Bosch wird eine große Kette von Autowerkstätten das System demnächst einsetzen. Auch die Fertigungsabteilungen testen die Methode bereits.

Dort zeigt das Tablet die Lage von Airbag-Komponenten oder des Kabelbaums unter dem Armaturenbrett. Die Monteure lernen so die korrekte Platzierung der Bauteile. Nachteil: Die Person hat die Hände nicht frei, kann also nicht synchron zur Anzeige aktiv werden. Bosch will seine Common Augmented Reality Platform (CAP) dennoch künftig nicht nur in der Automobilindustrie etablieren, sondern etwa auch bei der Wartung von Windkraftanlagen oder in der Flugzeugindustrie.

Ihren Ursprung hat CAP in der technischen Dokumentation. Deshalb ist es Bosch wichtig, dass die AR-Funktion auch in die Software integriert ist, die technische Redakteure gewohnt sind. Die können dort 3D-Bilder, etwa aus der CAD-Software der Konstrukteure, mit Fähnchen markieren, hinter denen sich Texte, Bilder, Videos, Schaltpläne und vieles mehr in einer Datenbank verbergen. Richtet später der Mechaniker in der Werkstatt die Tablet-Kamera auf den Motor, erkennt die Software die Maschine. Sie holt sich dann via Internet die passenden Informationen aus der Datenbank, die der technische Redakteur vorher angelegt hat. Der Blick ins Handbuch entfällt, was die Arbeitsabläufe bei der Reparatur beschleunigt. Augmented Reality rückt damit wieder etwas näher an die Realität heran. (bsc)