Europäischer Gesundheitsdatenraum: "Gefahr einer Totalprävention"

Die Pläne der EU-Kommission für einen europäischen Gesundheitsdatenraum überschreiten mehrere ethische Grenzen, sagt die Ethikerin Jessica Heesen.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 14 Kommentare lesen

(Bild: Erstellt mit Midjourney durch heise online)

Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Christiane Schulzki-Haddouti
Inhaltsverzeichnis

Politik und Wirtschaft erhoffen sich vom geplanten Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS) vor allem Erkenntnisgewinne für die Forschung und damit einhergehend bessere Therapiemöglichkeiten für Patienten. Doch aktuell gibt es noch viele ungeklärte Hindernisse für die erfolgreiche und risikoarme Umsetzung des EHDS. Im Gespräch mit heise online erklärt Ethikern Jessica Heesen, welche Gefahren lauern, aber auch, welche Ansätze funktionieren könnten.

Im Interview: Jessica Heesen

(Bild: Plattform Lernende Systeme/Thilo Schoch)

Jessica Heesen leitet den Forschungsschwerpunkt "Medienethik und Informationstechnik" am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. In verschiedenen Forschungsprojekten befasst sie sich mit Fragen nach einer wertorientierten Entwicklung von künstlicher Intelligenz. Sie ist Mitglied des "Forum Privatheit und selbstbestimmtes Leben in der digitalen Welt" und Co-Leiterin der AG "IT-Sicherheit und Privacy, Recht und Ethik" der Plattform Lernende Systeme des Bundesforschungsministeriums.

heise online: Dürfen Krankenversicherungen ihre Tarife entsprechend der Daten, die sie von den Patienten bekommen, anpassen?

Jessica Heesen: Das sollten sie aus ethischer Perspektive keinesfalls tun, weil es ein Bruch mit dem Solidarprinzip in der Krankenversicherung wäre. Aber wenn wir uns das Gesamtpaket zum EHDS anschauen, besteht diese Gefahr tatsächlich. Es geht nicht nur um die Gesundheitsdaten, die von der Krankenversicherung abgegeben werden können. Patienten und Patientinnen sind zunehmend bereit, eigene Daten etwa für Ernährungstipps an die Krankenkassen weiterzugeben. Die Kassen können dann gesundheitsschädliches oder risikofreudiges Verhalten bewerten und letztendlich ihre Tarife anpassen.

Sollte der EHDS-Gesetzesvorschlag also individuelle Krankenkassentarife in Folge von Datamining ausschließen?

Heesen: Auf alle Fälle sollten solche Aspekte genannt werden, um so etwas vorzeitig den Riegel vorzuschieben. Was mir in der ganzen Diskussion um die Bereitstellung von Gesundheitsdaten nicht gefällt, ist, dass man jetzt nur auf den relativ gut regulierten Gesundheitsbereich schaut und allgemein von Forschung spricht. Aber die größten Fortschritte werden in der Privatwirtschaft gemacht. Im Bereich der Forschung ist die Plattformökonomie ganz groß dabei – mit ihren eigenen Geschäftsinteressen vor allem im Bereich "Health as a Service". Schicken diese Unternehmen uns letztlich nur Werbung für Hautcremes für unsere Gesundheitsdaten, die sie in den Apps gesammelt haben, oder geht es hier auch um ernsthafte Therapieerfolge, die in den Blick genommen werden sollen?

Was erwarten Sie hier von der europäischen Gesetzgebung?

Heesen: Bisher werden keine Ansprüche formuliert, um auf die Daten von den großen Plattformbetreibern zuzugreifen. Letztendlich geht es immer nur darum, was Patienten bereit sind weiterzugeben. Aber was ist die Plattformökonomie bereit weiterzugeben, die über so viele Gesundheitsdaten verfügt, die nicht vom ersten Gesundheitsmarkt stammen – das ist ja wirklich eine Fundgrube. Die Digitalunternehmen können damit forschen, aber das öffentliche Gesundheitswesen und die Universitätskliniken müssen immer schön fragen, ob sie die Daten nehmen dürfen oder nicht. Das ist ein Ungleichgewicht.

Sollten denn kommerzielle und gemeinwohlorientierte Forschungszwecke deutlicher voneinander getrennt werden?

Heesen: Auf alle Fälle. Vielleicht möchte ich mich ja gar nicht daran beteiligen, dass die Google-Forschung im Gesundheitsbereich noch bedeutender wird. Vielleicht will ich ja auch keine personalisierte Werbung passend für meine Gesundheitsprobleme zugeschickt bekommen. Hier geraten wir stark in die anderen europäischen Regulierungsbereiche hinein wie etwa dem Digital Services Act. Es lässt sich kaum noch trennen, was eigentlich Gesundheitsdaten sind für das Allgemeinwohl oder was nur kommerziellen Interessen entspricht.