Europäischer Gesundheitsdatenraum: "Gefahr einer Totalprävention"

Seite 3: Auf dem Weg in die Totalprävention

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Oft wird damit argumentiert, dass die Corona-Pandemie gezeigt habe, wie wichtig es sei, die digitalen Gesundheitsdaten jederzeit in Echtzeit auswerten zu können. Lässt sich dieses Argument so verallgemeinern, dass es den Zugriff auf alle Gesundheitsdaten rechtfertigt?

Heesen: Nein, es lässt sich nicht verallgemeinern. Wir konnten einen Blick über die nationalen Grenzen werfen und haben gesehen, dass es in Ländern wie zum Beispiel Korea letztendlich im Bereich der Corona-Prävention auch nicht zu größeren Erfolgen geführt hat.

Letztendlich müssen wir schauen, dass wir jetzt in keine Datensammelwut verfallen. Ich sehe hier die Gefahr einer Totalprävention, wenn alle möglichen Daten in Echtzeit mit Apps aus allen möglichen Bereichen gesammelt werden. Letztendlich wird die Frage nach Gesundheit und Krankheit dann eine Frage von Lebensstilen, die in Bezug auf mein persönliches Krankheitsrisiko ausgewertet werden.

Ist es nicht gut, die eigenen Krankheitsrisiken besser zu kennen?

Heesen: Das kann zu individualisierten Versicherungen führen, aber auch zu einer grundlegenden Verängstigung oder auch ständigen Optimierungsversuchen im Bereich des individuellen Lebens. Das ist etwas, was wir unbedingt verhindern sollten. Wir sollten also ganz klar trennen, was relevante Daten anbelangt und was meinen allgemeinen Lebensstil betrifft. Hier sehe ich die Gefahr einer starken Vermischung.

Was wird diese Fokussierung auf die Verfügbarkeit von Gesundheitsdaten bei uns selbst verändern?

Heesen: Wir stehen am Anfang einer stetigen Entwicklung, in der wir Patientinnen und Patienten natürlich Zugang haben zu unseren Gesundheitsdaten. Es werden die entsprechenden Dienste folgen, die uns dann unsere persönlichen Risiken ausrechnen oder uns Tipps geben, wie wir unsere Gesundheit noch besser auf den Weg bringen können. Die Datenökonomie wird damit natürlich kreativ umgehen.

Wo sehen Sie die Grenzen des Allgemeinwohls?

Heesen: Generell ist es so, dass die Grenzen des Allgemeinwohls da überschritten werden, wo ich mit diesem Argument die Strukturen zerstöre, die letztendlich für Menschenrechte und freie Demokratie stehen. Wenn ich also meine Daten für das Allgemeinwohl freigeben muss und dafür eventuell mein Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht wahrnehmen kann, oder wenn sich Personen nicht mehr frei öffentlich äußern wollen, aus Angst, dass ihnen jemand aufs Brot schmiert, dass sie eine psychische Erkrankung haben, dann ist die Grenze des Allgemeinwohls überschritten.

Und umgekehrt: Wo sehen Sie die Grenzen des Wohls des Einzelnen?

Heesen: Umgekehrt kann natürlich nicht jeder auf seinen Daten sitzenbleiben, wenn es gewisse berechtigte Ansprüche gibt. Grenzen sind erreicht, wenn der Einzelne nicht mehr in seinem aufgeklärten Eigeninteresse handelt. Das heißt, jeder und jedem müsste klar sein, dass man dazu bereit sein sollte, einige seiner Daten preiszugeben, um letztendlich eine gute Gesundheitsforschung für alle voranzubringen. Wünschbar wäre natürlich eine solidarische Orientierung - im Einklang mit dem Datenschutz und einer sicheren Gesundheitsversorgung.

Steht denn überhaupt das Wohl des Patienten im Mittelpunkt des Kommissionsentwurfs?

Heesen: Es sollte darauf geachtet werden, dass der Entwurf das gesamte Gesundheitssystem im Blick behält. Eine Lösung aus Hochtechnologiebereichen wie künstlicher Intelligenz, Big Data und der Nutzung von Daten für die Forschung reicht nicht, um das Wohl des Patienten oder der Patientin in den Vordergrund zu stellen.

Wir müssen stattdessen auch im Blick behalten, dass die Kommunikation vor Ort funktioniert. Viele Betroffene haben nicht das Problem, dass zu viele ihrer Daten gesammelt werden, sondern dass Informationen nicht weitergegeben werden. Bei einem Wechsel von einem Krankenhaus zum nächsten, von einem Arzt zur nächsten Ärztin ist zu wenig Zeit für Kommunikation. Das sind ganz pragmatische Dinge, die auch abseits von allen Forschungen zum Gesundheitsbereich verbessert werden könnten und die dann tatsächlich zum Wohl des Patienten oder der Patientin genutzt werden könnten.

(mack)