Japan: Statt neue Technologie für kaputte Prozesse, lieber Prozesse optimieren

Die Philosophie der kleinen Schritte führt in Japan zu geschmeidig laufenden Prozessen – Kaizen ist das Zauberwort. Damit ist sogar die Bahn pünktlich.

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Japanische Flagge aus Partikeln

(Bild: muhammadtoqeer/Shutterstock.com)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Julia Kloiber

アレルギーはありますか? – Die Frau vor mir tippt eifrig auf der Tastatur ihres Tablets. Ich verstehe sie erst, als die App die Übersetzung ausspuckt. "Haben Sie eine Allergie?", steht da. Kopfschütteln. Es ist Dezember und ich sitze in einem Krankenhaus in Nagasaki. Mein Freund hat sich an der Hand verletzt. Zum Zeitpunkt unseres Krankenhausbesuchs umfasst unser Japanisch-Wortschatz zwei Lektionen Duolingo: "Hallo. Danke. Zwei Bier bitte. Ja. Wo ist die Toilette? Nein. Lecker. Tschüss." Damit einen Anamnesebogen auf Japanisch beantworten: ¯\_(ツ)_/¯

Während ich mir ein langwieriges Prozedere ausmale, biegt eine Pflegekraft mit einem iPad um die Ecke und startet die Übersetzungsapp. Erleichtert verlassen wir wenig später mit genähter Wunde und Rezept das Krankenhaus. Auf dem Rezept sind Fotos der Tabletten abgebildet. Das Design ist simpel, aber genial. Es bedarf keiner Übersetzung. Gut durchdachte User-Experiences wie diese werden mir auf meiner Reise noch öfter begegnen, vom Nahverkehr bis hin zum Katastrophenschutz. Doch was ist in Japan so anders als bei uns?

Das japanische Geheimnis nennt sich Kaizen. Das chinesische Wort setzt sich aus 改 kai – Veränderung, Wandel – und 善 zen – zum Besseren – zusammen. Es ist eine japanische Lebens- und Arbeitsphilosophie, die auf der Idee beruht, dass kleine, fortlaufende positive Veränderungen zu erheblichen Verbesserungen führen können. Kaizen kommt aus der Fertigung, aus den Werken von Toyota und Co., nicht aus den glitzernden Softwareschmieden des Silicon Valley. Disruption und Innovation, die großen Veränderungen der digitalen Transformation, sind das Gegenteil der kleinen Trippelschrittchen des Kaizen. Aber ich sehe die Ergebnisse, zu denen es führt: Kundenorientierung, Pünktlichkeit, reibungslose Abläufe, hohe Sicherheitsstandards. Kurz: Perfektion. Statt neue Technologie auf kaputte Prozesse aufzusetzen, werden die Prozesse optimiert.

TR-Kolumne von Julia Kloiber

Nie zuvor konnte ich ein lokales Nahverkehrssystem so bequem benutzen wie in japanischen Städten. Vom kontaktlosen Check-in über die Wegweiser zum richtigen Wagon, barrierefreie Leitsysteme, saubere Toiletten, bis hin zum kontaktlosen Schließen der Schließfächer und den Bodenmarkierungen fürs geordnete Ein- und Aussteigen. Das Beste: Die Reibungslosigkeit skaliert. Durch Bahnhöfe wie die Tokyo Station laufen am Tag über 1,1 Millionen Menschen.

Diese Perfektion ist Teamwork. Der viel zitierte Kulturwandel, den es für die digitale Transformation braucht, ist Kernstück von Kaizen. Denn alle Mitarbeitenden sind dazu angehalten, in ihren Bereichen für Verbesserung zu sorgen, Fehler und Engpässe auszumerzen und Problemlösungen vorzuschlagen. Bei Toyota kann zum Beispiel jeder Mitarbeiter oder jede Mitarbeiterin an der Fertigungsstraße per Knopfdruck den Prozess anhalten. Der Kulturwandel wird nicht von oben herabgepredigt, sondern tagtäglich gelebt.

Kaizen ist Teil der Routine. Das zeigt sich auch in Extremsituationen: "Bääp Bääp Erdbeben Bääp Bääp" – tönt es am 1. Januar um Punkt 16:10 Uhr aus meinem und allen umliegenden Handys. Ich kauere auf dem Boden vor einem Sushilokal und halte die Hände schützend über meinen Kopf. Um mich herum fallen Schilder um. Ein Mädchen weint. Der Mann neben mir filmt die wackelnden Wände. Später werden wir erfahren, dass nicht allzu weit von uns entfernt ein Beben mit einer Stärke von 7,6 gemessen wurde. Das schwerste Erdbeben in der Region seit vier Jahrzehnten. Wenige Sekunden nach der ersten Handymitteilung folgt eine Tsunamiwarnung. Das Personal des Sushiladens instruiert uns, auf den Bahnhofsvorplatz zu gehen. Dort informieren Mitarbeiter*innen die Passanten mit Megaphonen. Die Abläufe wirken trotz des Ausnahmezustandes routiniert, als hätte man sie Hunderte Male zuvor trainiert und optimiert.

Zwei Tage später sitze ich im Shinkansen Richtung Tokio. Der Bahnverkehr der Hochgeschwindigkeitszüge wurde bereits einen Tag nach dem Beben wieder aufgenommen. Als ich einsteige, spüre ich ein Nachbeben. Der Schaffner läuft durch die Gänge und entschuldigt sich höflich für die außerordentliche Verspätung. Sie beträgt 15 Minuten.

(jle)