KI-Technik im Fußball: Finger weg vom Handspiel!

Künstliche Intelligenz soll bei Handspielentscheidungen im Fußball helfen, hofft der Bundestrainer. Das ist aussichtslos: Auch KI wird das Problem nicht lösen.

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Kommentar-Schriftzug mit Bild von Handspiel

Die Hand am Ball, der Richtung Tor fliegt: Das lässt sich auch ohne KI feststellen. Was man mit diesen Infos macht, müssen am Ende immer Menschen entscheiden.

(Bild: UEFA, Bearbeitung durch heise online)

Lesezeit: 4 Min.

Der Fußballfan jammert gern. Vor allem über Schiedsrichterentscheidungen: Als Thomas Delaneys Abseitszeh millimetergenau durch den Einsatz von Technik überführt wurde, waren dänische Fans unglücklich. Die Technik macht den Sport kaputt! Dass Marc Cucurellas spanische Rückhand später das mögliche Weiterkommen der deutschen Nationalmannschaft mindestens erschwert hat, kam derweil hierzulande schlecht an. Mehr Technik hätte das verhindern können! Das findet auch Bundestrainer Julian Nagelsmann, der im technischen Fortschritt eine Teillösung für das ewige Handspiel-Dilemma erkannt hat. Es ist ein gut gemeinter, aber aussichtsloser Vorstoß: Der Handspielregel ist nicht einmal die KI gewachsen.

Ein Kommentar von Daniel Herbig

Daniel Herbig berichtet auf heise online über Videospiele, Unterhaltungselektronik und andere Gadgets.

Grundsätzlich ist es richtig, Technik da einzusetzen, wo sie den Sport berechenbarer und fairer macht. Die halbautomatisierte Abseitserkennung der UEFA zeigt so objektiv wie möglich, dass der Däne Delaney für ein EM-Viertelfinale einfach zu große Füße hat. Dass die präzise Abseitskante den benachteiligten Spielern und Fans Kummer bereitet, ist ebenso verständlich wie egal: Gejammert wird ja eh immer. Die Abseitstechnik der UEFA macht den Sport gerechter und weniger fehleranfällig. Genau wie die Torlinientechnik, die schon seit Jahren in der Bundesliga über Tor oder nicht Tor richtet.

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Wer sich nun parallel dazu eine Handspieltechnik wünscht, verkennt aber die Vertracktheit dieser unbändigen Fußballregel. Abseits, Torlinie – das ist binär. Ja oder nein, drüber oder eben nicht. Die Handspielregel ist in allen denkbaren Auslegungsvarianten nicht binär, sondern immer interpretationsbedürftig. Deswegen haben sie die Verbände in über 150 Jahren Fußballgeschichte nie komplett in den Griff bekommen.

Und dabei bleibt es auch. Denn egal, wie sehr man die Handspielregelung auch dreht und wendet: Technik allein wird es nicht richten. Ein Beschleunigungssensor im Ball kann zweifelsfrei feststellen, ob die Kugel berührt wurde. Aber der Sensor weiß nicht, ob sich der Arm absichtlich zum Ball bewegt hat. Er hat keine Ahnung, ob der Arm angelehnt war, ob es sich um eine "natürliche Bewegung" des Abwehrspielers handelte und ob dieser Abwehrspieler überhaupt noch Zeit gehabt hätte, die Hand aus dem Schussfeld zu ziehen. Das alles kann aber je nach Regelauslegung in der Beurteilung den Ausschlag geben. Am Ende muss zwangsläufig ein Mensch stehen, der das Gesamtbild bewertet und schließlich nach seinem besten Ermessen entscheidet.

Die Technik kann bestenfalls Datenpunkte liefern, die geringfügig bei der Einschätzung helfen – wie es etwa der Bewegungssensor im Ball bereits tut. Das sieht wohl auch Julian Nagelsmann so. Der Bundestrainer forderte im Nachgang des Spanien-Spiels aber zusätzlich KI-gestützte Flugbahnberechnungen. Künstliche Intelligenz soll also ermitteln, ob ein geschossener Ball aufs Tor gekommen wäre oder eine Flanke den gewünschten Abnehmer gefunden hätte. Das wäre mit hohem Aufwand wohl machbar – kann aber genauso gut von einem Menschen beurteilt werden.

Schiedsrichter Anthony Taylor dürfte sehr wohl bemerkt haben, dass Jamal Musiala den Ball eben nicht in die Stuttgarter Innenstadt, sondern grob in Richtung Tornetz gedroschen hat. Wäre das nach den UEFA-Regeln relevant für die Beurteilung, hätte Taylor auch ohne technische Rückendeckung auf den Punkt zeigen können. War es bei diesem Turnier aber nun mal nicht. Ob durch das Handspiel sogar ein Tor verhindert wurde, kann die hypothetische Flugbahn-KI übrigens auch nicht beantworten: Das Verhalten menschlicher Torhüter ist bekanntermaßen unberechenbar.

Keine Technik dieser Welt hätte Taylor also umstimmen können, und keine KI hätte die Szene fairer interpretieren können. Nicht einmal die Schiedsrichterexperten sind sich einig, ob es für Cucurellas Handblockade Elfmeter hätte geben sollen. Handspiel ist oft streitbar, uneindeutig und blickwinkelabhängig. Klare Antworten gibt es nur selten. Das ist unbefriedigend, aber die KI wird uns davor nicht retten. Damit müssen wir Menschen alleine klarkommen.

Zumindest können wir gemeinsam darüber jammern.

Update

In einer früheren Version des Texts hieß es, Joachim Andersen habe im Abseits gestanden. Tatsächlich war es Thomas Delaney. Wir haben den Text angepasst.

(dahe)