Kommentar: Die analoge Verwaltung als tickende Zeitbombe

Seit Jahrzehnten kommt die Digitalisierung der deutschen Justiz und Verwaltung nicht von der Stelle. Das wird sich bitter rächen, sagt Martin Gerhard Loschwitz.

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(Bild: Chokniti Khongchum/Shutterstock.com)

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  • Martin Gerhard Loschwitz
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Die völlig vermurkste Digitalisierung der deutschen Verwaltung wird absehbar nicht weniger als die gesamte Republik lahmlegen. Die Verantwortung für die dräuende Katastrophe trifft dabei vor allem die Politik, die das Thema aus Borniertheit, Überheblichkeit und mangelndem Interesse immer wieder auf die lange Bank schiebt und sehenden Auges in ihr eigenes Verderben rennt.

Ein Kommentar von Martin Gerhard Loschwitz

Martin Gerhard Loschwitz ist freier Journalist und beackert regelmäßig Themen wie OpenStack, Kubernetes und Ceph.

Am eigenen Leib erfahre ich gerade, was die deutsche Liebe zum behördlichen Analog-Totalitarismus im schlimmsten Falle bedeutet. Eigentlich will ich nur eine GmbH gründen. Das Handelsregister des verantwortlichen Amtsgerichts in Nordrhein-Westfalen, zuständig für immerhin zwei Landkreise, eine Stadt und mithin gut über eine Million Menschen (und die dazu gehörenden Betriebe und Arbeitsplätze), arbeitet wegen akuten Personalmangels seit Monaten allerdings bloß noch im Notbetrieb. Ganz konkret scheitert man daran, die Bescheide zur Einhebung der Sicherheitsleistung zu verschicken, die nötig ist, damit die Eintragung ins Handelsregister erfolgen kann. Hakt man etwas nach, erfährt man, dass weit über 200 Eintragungen aus diesem Grund auf Halde liegen. An diesen Eintragungen hängen Unternehmen, die Gründer derselben und Jobs. Ohne Eintragung gibt es schließlich keine Umsatzsteueridentifikationsnummer, ebenso wenig wie eine Steuernummer, was regulären wirtschaftlichen Betrieb weitgehend unmöglich macht.

Darüber hinaus gibt es allerdings auch gar keinen sachlichen Grund dafür, dass das Versenden eines Gebührenbescheides im Jahre 2023 noch manuell geschehen muss. Der einzige, rein aus rechtlichen Gründen durch Menschenhand zu erledigende Schritt im Rahmen einer Unternehmensgründung ist schließlich die Prüfung des Gesellschaftsvertrages durch das Gericht. Nach erfolgter Prüfung müsste es folglich ausreichen, wenn das Gericht den Haken für "genehmigt" im digital eingegangenen Antrag setzt, damit das System im Hintergrund den Bescheid automatisch erstellt und – idealerweise digital, aber notfalls auch per Post – verschickt. Natürlich muss der Bescheid ein eindeutiges Identifikationsmerkmal wie etwa ein Aktenzeichen haben, anhand dessen die Software des Gerichts den Eingang der Sicherheitsleistung über den Verwendungszweck erkennt. Springt der Saldo auf 0, erfolgt automatisch die Eintragung im Register – fertig. Den allergrößten Teil der Eintragungen würde dieses System fast vollständig automatisieren. Das Personal könnte sich um die Fälle kümmern, in denen etwas schiefläuft oder besondere Voraussetzungen vorliegen.

Dass in deutschen Behörden und Gerichten stattdessen immer noch Aktenordner "verschoben" werden, wie es im Amtsdeutsch so schön heißt, hat viel mit der Mischung aus bräsiger Arroganz ("ging ja früher auch ohne!") und fachlicher Inkompetenz zu tun, mit der die deutsche Politik dem Thema Digitalisierung seit Jahren und Jahrzehnten begegnet. Die Liste der (beinahe) gescheiterten oder gefühlt bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag verzögerten Projekte ist dabei schier endlos – sie reicht vom neuen Personalausweis (nPA) über Themen wie E-Rezept, digitale Patientenakte und das besondere elektronische Anwaltspostfach, kurz beA.

Weltweit schon verschrien ist obendrein die deutsche Vorliebe für das Fax. Völlig zurecht: Neben der klassischen Briefpost ist das Fax bis heute schließlich das einzige rechtssichere Mittel für die Kommunikation mit bestimmten Behörden in wichtigen Fristsachen. Während gerade jüngere Menschen andernorts auf der Welt gar nicht mehr wissen, was ein Fax überhaupt ist. Und damit es auf gar keinen Fall besser wird, hat die Ampelkoalition gerade erst ihr Budget für die Digitalisierung zusammengestrichen.

Die schlechte Nachricht ist, dass das bisher praktizierte System sich nicht mehr allzu lange wird aufrechterhalten lassen -- und zwar nicht mal in seinem aktuellen, desolaten Zustand. Langsam aber sicher verabschieden sich die "Boomer"-Jahrgänge, die bisher einen durchaus relevanten Teil der Mitarbeitenden in Verwaltung und Justiz stellten, in den Ruhestand. Der demografische Wandel und veränderte Berufsvorlieben sorgen dafür, dass die Lücken durch neues Personal nicht zu schließen sein werden. Verglichen mit diesem aufziehenden Wirbelsturm ist der aktuelle Personalnotstand in den Verwaltungen und der Justiz, der vorrangig auf Überlastung und/oder Erkrankung zurückzuführen ist, ein laues Lüftchen.Da hilft auch die "Entschlackung der Vorschriften" nicht, die manche Politiker gebetsmühlenartig fordern. Elementare Dienste wie das staatliche Meldewesen oder das digitale Steuersystem lassen sich schlicht nicht abschaffen und auch nicht zurückstutzen, wenn irgendeine Grundform staatlicher Administrierbarkeit erhalten bleiben soll.

Wenn irgendwer in der deutschen Politik dieses Problem allerdings ernsthaft auf dem Schirm hat, dann sehr gut versteckt. Weiten Teilen der Bevölkerung ist im Augenblick gar nicht klar, dass sie sich unfreiwillig auf der Schussfahrt in den analogen Abgrund befinden. Um diese abzubrechen, sind konkrete Maßnahmen schnell geboten. Behörden, Ämter und Gerichte müssen endlich die Werkzeuge an die Hand bekommen, um hochkarätige (IT-)Fachkräfte zu marktüblichen Konditionen zu beschäftigen. Das gute Gefühl, dem Staat und mithin der Gesellschaft zu dienen, bezahlt schließlich keine Rechnungen. Staatliche Projekte zur Digitalisierung müssen aus dem Würgegriff der sie üblicherweise umgebenden Lobby befreit und auf ein Fundament der technischen Vernunft gestellt werden, damit entwickelte Lösungen am Ende den Menschen auch wirklich nützen. Digitale Infrastruktur des Staates muss in der Politik endlich als das verstanden werden, was sie im Jahre 2023 ist: schiere Notwendigkeit statt "Nice to have".

Lange hat man sich in Deutschland viel darauf eingebildet, global betrachtet zur wirtschaftlichen Champions League zu gehören und ein attraktiver Unternehmensstandort zu sein. Die töricht verstolperte Digitalisierung verfrachtet die Republik allerdings eher in die Kreisklasse. Die Zeiten des digitalen Analphabetismus müssen auf staatlicher Ebene endlich vorbei sein, und zwar ein für allemal.

(mki)