Kommentar: Wir brauchen eine Debatte über Regeln für die Gaszuteilung

Wenn Gas rationiert werden muss, soll dies durch Einzelfallentscheidungen der Bundesnetzagentur geschehen. Das kann nicht der Weisheit letzter Schluss ein.

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Würde Erdgas nur zum Kochen verwendet, hätten wir jetzt deutlich weniger Probleme.

(Bild: Skye Studio LK/Shutterstock.com)

Lesezeit: 4 Min.
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Es wird eng. Bis November wollte die Bundesregierung eigentlich die Gasspeicher zu 90 Prozent gefüllt haben. Im Moment liegen die Füllstände laut Bundesnetzagentur bei gut 60 Prozent. Aber seit Mitte Juni stocken die Lieferungen aus Russland – und bleiben möglicherweise bald ganz aus.

Eine der geplanten Gegenmaßnahme ist eine Art Gas-Auktion. In der Prosa der Bundesnetzagentur klingt das so: Entwickelt werde ein "Gas-Regelenergieprodukt, mit dem Industriekunden gemeinsam mit ihren Lieferanten gegen eine rein arbeitspreisbasierte Vergütung ihren Verbrauch in Engpasssituationen reduzieren und Gas dem Markt zur Verfügung stellen können (Demand-Side Management). Damit wird – einer Auktion gleich – ein Mechanismus geschaffen, der industriellen Gasverbrauchern einen Anreiz gibt, Gas einzusparen, das dann wiederum zum Einspeichern genutzt werden kann". Mit anderen Worten: Wer weniger verbraucht, kann damit Geld verdienen. Das Verfahren soll "noch im Sommer" an den Start gehen.

Reicht das Gas im Winter trotz Auktion und Sparappellen immer noch nicht, muss die Bundesnetzagentur entscheiden, wer Gas zugeteilt bekommt. Private Haushalte, soziale Einrichtungen wie Krankenhäuser oder Pflegeheime sowie Heizkraftwerke sind besonders geschützt. Sie bekommen auf jeden Fall Gas, solange etwas übrig ist.

Sparen muss demzufolge die Industrie. Doch nach welchen Gesichtspunkten genau? Die Bundesnetzagentur will sich da nicht festlegen: "Alle Entscheidungen sind Einzelfall-Entscheidungen. Daher bereitet die Bundesnetzagentur keine abstrakten Abschalte-Reihenfolgen vor. Der wiederholt vorgetragene Wunsch hiernach ist aus Gründen der Planungssicherheit für die potentiell betroffenen Akteure natürlich sehr nachvollziehbar. Gleichwohl ist der Entscheidungsprozess derart komplex, dass eine abstrakte Regelung ihm nicht gerecht wird."

In der Tat zieht jeder Gas-Entzug eine kaum zu überschauende Kette an Nebeneffekten nach sich, die mitunter weit über den betroffenen Betrieb hinausreichen: Wird dadurch beispielsweise die Produktion von Dünger beeinträchtigt, werden auch Lebensmittel teurer. Doch gerade deshalb dürfte man um "abstrakte Regeln" wohl nicht ganz herum kommen. Denn nur so wird transparent, welche Prioritäten und Werte hinter einer Gas-Triage stehen.

Ein Kommentar von Gregor Honsel

Gregor Honsel ist seit 2006 TR-Redakteur. Er glaubt, dass viele komplexe Probleme einfache, leichtverständliche, aber falsche Lösungen haben.

Denn auch die Auktion ist ja nur ein scheinbar wertneutrales Instrument. Vordergründig gilt sie als elegantes marktwirtschaftliches Werkzeug, um Betriebe zu identifizieren, die Gas am billigsten einsparen können. Allerdings lässt diese Logik die gesamte nachgelagerte Wertschöpfungskette außen vor. Möglicherweise hat ja der Ausfall eines bestimmten Lieferanten weitaus größere volkswirtschaftliche Verwerfungen, als sich durch das reine Gassparen rechtfertigen lassen?

Michael Böhmer, Chefvolkswirt des Beratungsunternehmens Prognos, hat eine Idee, wie sich das verhindern ließe. Verfügbares Gas solle nicht "per Gießkanne" verteilt werden, sondern sich an den "Abstrahleffekten entlang der Lieferkette" orientieren, sagte er gegenüber der HAZ. Als Beispiel nennt er die Glasindustrie: Sie brauche absolut gesehen relativ wenig Gas, habe aber einen großen Einfluss auf andere Branchen. Politisch sei das aber wohl "schwer durchzusetzen", schätzt Böhmer.

Zudem erzeugt die Auktion einen Anreiz für Unternehmen, unrentable Produktionen mit Unterstützung des Steuerzahlers abzuwickeln. Enzo Weber, Bereichsleiter des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, hat in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel deshalb weitere Regeln ins Spiel gebracht: Anreize zum Sparen sollten sich nicht am absoluten Gas-Verbrauch orientieren, sondern am Verbrauch im Verhältnis zur Produktivität.

Nur so entstehe eine Motivation, wirklich die Effizienz zu verbessern und nicht einfach die Produktion zu drosseln. "Noch weniger komplex wäre, zumindest den Verzicht auf Personalabbau und Kurzarbeit vorauszusetzen", so Weber. Zudem sei bei Gas-Auktionen darauf zu achten, "dass nicht Lieferausfälle und Kurzarbeit in Betrieben nachgelagerter Produktionsstufen die Folge wären".

Eine aktuelle Simulation macht Hoffnung, dass es nicht zur Rationierung von Gas für die Industrie kommen muss. Trotzdem sollten wir die nächsten Monate nutzen, um über die Zuteilungsregeln zu diskutieren. Das Problem den Einzelfallentscheidungen der Bundesnetzagentur zu überlassen, kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein.

(grh)