Missing Link: Der Schlüssel zu einem besseren Alter liegt in besseren Produkten

"Das Alter" ist eine Erfindung, meint Joseph Coughlin, Direktor vom MIT AgeLab und gibt einen Einblick in die Tech-Produktentwicklung für ältere Menschen.

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Kommentar: Der Schlüssel zu einem besseren Alter liegt in besseren Produkten

(Bild: George Wylesol)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Joseph F. Coughlin
Inhaltsverzeichnis

Von allen einschneidenden Veränderungen, die die Menschheit in den nächsten Jahrzehnten erleben wird – Klimawandel, künstliche Intelligenz, Gentechnik – ist keine so vorhersehbar wie die globale Alterung. Die Lebenserwartung in den Industrieländern ist seit 1900 um mehr als 30 Jahre gestiegen, und zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit gibt es heute mehr Menschen über 65 Jahren als unter fünf Jahren.

Demografen können diese Entwicklung Jahrzehnte im Voraus kartieren. Trotzdem sind wir darauf weder wirtschaftlich noch sozial, institutionell oder technologisch vorbereitet: Einer­seits verlieren Unternehmen immer mehr Kompetenz, weil erfahrene Mitarbeiter in Ruhestand gehen. Andererseits haben ältere Arbeitslose Schwierigkeiten, einen guten Job zu finden.

TR 10/2019

Joseph F. Coughlin ist Direktor des MIT AgeLab und Autor von "The Longevity Economy".

Das MIT AgeLab, das ich leite, untersucht ein ähnliches Paradoxon: das Missverhältnis zwischen den Produkten, die älteren Menschen angeboten werden, und denen, die sie wirklich wollen. So besorgen sich zum Beispiel nur 20 Prozent derjenigen, denen ein Hörgerät helfen würde, tatsächlich eins. Und nur zwei Prozent der über 65-Jährigen wollen einen mobilen Notrufknopf haben. Die Geschichte steckt voller gescheiterter Produkte, von altersgerechten Autos bis zu übergroßen Handys. Jedes Mal hatten die Entwickler geglaubt, die Wünsche älterer Menschen zu verstehen. Und jedes Mal unterschätzten sie, wie Kunden vor Produkten flüchten, die nur einen Hauch von "Alter" versprühen. Schließlich halten sich laut einer Meinungsumfrage des Pew-Instituts nur 35 Prozent der Menschen über 75 für "alt".

Warum sind Produkte für Senioren oft so uninspiriert – groß, beige, langweilig? Daran, dass ältere Menschen kein Geld hätten, kann es nicht liegen. Und erzähle mir bitte niemand, es läge an mangelnder technischer Versiertheit. Heute sind 73 Prozent der US-Bevölkerung über 65 online, die ­Hälfte besitzt ein Smartphone.
Es gibt also eine Lücke zwischen Angebot und Nachfrage. Wer ein Hörgerät benötigt, aber kein geeignetes findet, dessen Lebensqualität wird darunter leiden. Diese Lücke ist eine Art Vakuum, bei dem man sich wundert, warum es toleriert wird. Schließlich sollten freie Märkte solche Lücken bei ausreichender Nachfrage früher oder später schließen.

Warum ist das so? Die Erklärung: "Das Alter", wie wir es kennen, ist eine Erfindung. Natürlich kommen mit den Lebensjahren biologische Unannehmlichkeiten. Doch ­diese allein erklären nicht unsere heute ­dominante Wahrnehmung des Alters.

Vor zweihundert Jahren hielt noch niemand "die Alten" für ein Problem, das gelöst werden müsse. Das begann sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu ändern. Ärzte glaubten, dass dem Körper mit der Zeit die "Lebensenergie" ausgehe. Sobald Patienten erste Anzeichen des Alters (weiße Haare, Wechseljahre) zeigten, hielten sie es für die einzige medizinisch sinnvolle Reaktion, alle Aktivität zurückzufahren – besonders Sex und körperliche Arbeit.

In den 1860er-Jahren machten medizinische Fortschritte die Vorstellung einer "Lebensenergie" obsolet. Gleichzeitig fanden aber soziale und wirtschaftliche Entwicklungen statt, die das Konzept des Alters als Periode der passiven Ruhe ­zementierten. In den Fabriken war Effizienz das neue Zauberwort, und Manager versuchten, den Beschäftigten eine möglichst hohe Produktivität abzuringen. Ältere Arbeiter mit angeblich wenig Lebensenergie waren ein leichtes Ziel. Ihnen wurde zum Teil aus humanitären Gründen eine Altersversorgung gewährt, zum Teil aber auch, um den Managern eine moralische Deckung dafür zu verschaffen, Leute allein wegen ihrer Lebensjahre zu feuern.

In den 1910er-Jahren setzte sich die Vorstellung durch, dass Alter ein Problem darstellt, das es sich in großem Maßstab anzugehen lohnt. In der Medizin wurde 1909 der Begriff "Geriatrie" geprägt. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war damit die erste Hälfte des modernen Altersmythos fertig: Ältere Menschen brauchen dringend Hilfe.

Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte die zweite Hälfte in Form der "goldenen Jahre". Sie beruht auf einer genialen Marketingidee des Immobilienentwicklers Del Webb, der das Ruhestandsmekka Sun City in Arizona schuf. Dadurch wandelte sich das Bild des Ruhestands von etwas Schlechtem, das der Chef einem angetan hatte, zu einer Belohnung für lebenslange harte Arbeit. Seitdem gelten Rentner entweder als ­bedürftig oder als konsumgierig. Dieses janusköpfige Bild erweckt den Eindruck von Ausgewogenheit, aber das täuscht: In beiden Fällen sind Alte immer nur Nehmer, nie Geber; immer nur Verbraucher, nie Produzenten.

Dieses Narrativ wirkt sich bis ­heute auf Produkte für ältere Menschen aus. Sie landen meist auf einer der beiden Seiten der Bedürftig-­gierig-Dialektik: Rollatoren, Medikamente und Pillen-Erinnerungs-Apps versus Kreuzfahrten, Alkohol und Golfplätze.

Natürlich gibt es mehr im Leben als das, was man kaufen kann. Trotzdem dürfte der Schlüssel zu einem besseren Alter in besseren Produkten liegen – vor allem, wenn wir "Produkt" als alles definieren, was eine Gesellschaft für einen Menschen herstellt, von elektronischen Gadgets über Lebensmittel bis hin zur Verkehrsinfrastruktur.

Nehmen wir etwa die SMS. Ursprünglich eine Spielwiese tratschender Teenager, wurde sie zum Geschenk des Himmels für gehörlose Menschen. "Transzendentes Design" ­nennen wir beim AgeLab solche Lösungen, die Bedürfnisse älterer Menschen zwar einschließen, aber weit über sie ­hinausgehen. Ein weiteres Beispiel sind elektrische Garagenöffner: Ursprünglich für diejenigen gedacht, die keine schweren Holztore hochwuchten konnten, boten sie einen Komfort, der auch für andere zu attraktiv war, um ihn zu ignorieren.

Das wachsende Feld der "Hearable"-Ohrhörer, die Echtzeit-Übersetzungen liefern oder bestimmte Umgebungsgeräusche verstärken, könnte auf ähn­liche Weise dazu beitragen, klassische Hörgeräte zu destigmatisieren. Und die Sharing-Ökonomie bietet Dienstleistungen à la carte an, die es bisher nur als Bündel für betreutes Wohnen gab: Wer Lebensmittel, Haushaltshilfe oder Fahrten jederzeit per Smartphone bestellen kann, der kann länger zu Hause wohnen bleiben.

Aber damit wir das Narrativ vom Alter umschreiben können, dürfen wir nicht nur darauf schauen, was ein Produkt tut, sondern auch darauf, was es sagt. Behandelt es ältere Menschen als ein zu lösendes Problem, bekommt jeder die Botschaft sofort mit. Auf diese Weise verfestigt der Markt für Seniorenprodukte das Bild vom Rentner als passivem Konsumenten und trägt damit zu einem Teufelskreis bei: Bewirbt sich ein älterer Erwachsener um einen Job, muss er gegen das Bild ankämpfen, eher in die Konsumenten- statt in die Produzentenrolle zu gehören. So aber findet seine hart erarbeitete Lebenserfahrung nur selten den Weg in die Entwicklung innovativer Produkte. Stattdessen halten sich jüngere Designer, ohne es zu merken, an gängigen Altersmythen fest.

Ich bin sicher nicht der erste Forscher, der feststellt, dass der freie Markt den Blick auf die Realität verzerren kann. In diesem seltenen Fall ist es vielleicht aber möglich, die Energie dieses Marktes gegen unsere Altersmythen zu richten. Schließlich können Unternehmen mehr Geld verdienen, wenn sie den riesigen Markt für ältere Kunden besser bedienen.

Das würde natürlich nicht jedes Problem im Zusammenhang mit dem Altern lösen, zum Beispiel die soziale Ungleichheit. Weiße Amerikaner sind beispielsweise tendenziell wohlhabender und gesünder und damit besser auf den Ruhestand vorbereitet als andere Bevölkerungsgruppen. Aber wenn ein anderes Denken über das Alter vorzeitige Entlassungen verhindert, würden auch diese davon profitieren.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Es würde auch nicht die Epidemie der Verzweiflungs-­Selbstmorde von Menschen mittleren Alters beenden. Aber die Umdefinition des "Alters" von einem schwarzen Loch der Passivität in eine Lebensphase aktiver Teilhabe dürfte sicherlich nicht schaden. Es lässt sich kaum ausmalen, welche Auswirkungen dies auf alle andere Lebensphasen haben würde. Ein realistischeres Bild des Alters könnte etwa jüngere und mittelalte Berufstätige motivieren, mehr für die Zukunft zu sparen – weil sie es nicht für eine hypothetische ältere Person tun, sondern für eine bessere Version ihrer selbst.

Indem die Technologiebranche den Markt für ältere Menschen nicht als Nische, sondern als Kernmarkt behandelt, kann sie viel zur Neudefinition des Alters beitragen. Designer zu bitten, sich in ältere Verbraucher hineinzuversetzen, ist zwar ein guter Anfang, reicht aber nicht aus. Zum Glück gibt es einen einfacheren Weg: ältere Arbeitskräfte einstellen. Wenn Sie also das nächste Mal Mitarbeiter suchen und der Lebenslauf eines älteren Menschen auf Ihrem Schreibtisch landet, schauen Sie ihn sich genau an. Schließlich werden auch Sie eines Tages alt sein. Es ist also ein Dienst an Ihrem künftigen Selbst. (jle)