Missing Link: Die Tage der Befreiung

Seite 2: Nicht alle konnten feiern

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Das deutsche Konzentrationslager Auschwitz I. Block 5. Einige der Schuhe, die von den Opfern übrig blieben.

(Bild: akturer / Shutterstock.com)

Vor allem aber waren die Tage der Befreiung die Tage einer riesigen Völkerwanderung. Zwischen acht und zehn Millionen Zwangsarbeiter und freigesetzte Kriegsgefangene waren als "Displaced Persons" (DP) unterwegs. Bedingt durch die Westverschiebung Polens zogen 13 Millionen Ostdeutsche nach Restdeutschland. Die Trizone hatte 16,5 Prozent mehr Einwohner, die sowjetische Besatzungszone wuchs um satte 25 Prozent. "Ich trag Schuhe ohne Sohlen und der Rucksack ist mein Schrank. Meine Möbel haben die Polen und mein Geld die Dresdener Bank", sang Ursula Herking im berühmten Marschlied 1945 von Erich Kästner. Lebten vor dem Krieg durchschnittlich 160 Personen auf einem Quadratkilometer, so waren es danach 200 Personen. Das ganze Ausmaß dieser Umsiedelung hat sich in traumatischen Erinnerungen niedergeschlagen, in denen etwa mürrische westfälische Bauern die "Polacken" empfingen, die ihnen zugeteilt worden waren. In der sowjetischen Besatzungszone wurde die offizielle Sprachregelung von den "Neubürgern" nur mürrisch befolgt.

Als die Alliierten Deutschland besiegt hatten, gab es auch Plünderungen und Vergewaltigungen, doch der Sieg über Fanatismus und rassistische Fantasie war erreicht. Nicht alle konnten feiern, wie sie wollten: So waren die Polen noch vor den Franzosen die viertgrößte Volksgruppe, die gegen Hitlerdeutschland kämpfte. Einen Status als Siegermacht, wie ihn die Franzosen bekamen, wurde ihnen von Stalin verwehrt. Sein Geheimdienst NKWD ermordete in Katyn 4400 Offiziere. Heute ist es Putin, der die Erinnerungsgeschichte an den Tag der Befreiung zu einem russischen Gedenktag umgestaltet und den Polen in einer Umschreibung der Geschichte die Mitschuld am Weltkrieg unterschiebt, ohne den Hitler-Stalin-Pakt zu erwähnen. Heute gehört das Museum Karlshorst im Offizierskasino der ehemaligen Pionierschule nach dem Reichstag zu den beliebtesten Zielen der Nachkommen von Rotarmisten in Berlin. Dort wurde die Kapitulation am 9. Mai 1945 unterzeichnet.

Selektion an der Bahn-Rampe in Auschwitz-Birkenau (1944).

(Bild: Everett Historical / Shutterstock)

Doch keine Betrachtung zur Befreiung der Deutschen ist vollständig ohne den millionenfachen Mord von Juden. Die einziehenden Alliierten befreiten Zigtausende von ihnen aus den Konzentrationslagern, doch die Massenvernichtung wie die von Auschwitz gehört zu den Themen, die die befreiten Deutschen nicht an sich heranließen. Man zeigte ihnen Filme aus den Konzentrationslagern, doch sie sahen weg. In der amerikanischen Besatzungszone wurden im Sommer 1945 überall Plakate mit Bildern aus den KZ Bergen-Belsen und Dachau aufgehängt. "Diese Schandtaten: Eure Schuld!", doch sie wurden schnell abgerissen. Mit der Verdrängung des Holocaust einher ging der sanfte Umgang mit den Nationalsozialisten. Im April 1945 hatte die NSDAP 6 Millionen registrierte Mitglieder. Nur 900.000 wurden in den mit Laien besetzten Spruchkammern angeklagt und 25.000 von ihnen als aktive "Schuldige" mit einem Funktionsverbot belegt. Nur 1667 "Hauptschuldige" bekamen eine Haftstrafe.

In dem sich bald entwickelnden Kalten Krieg wurden die Funktionseliten und Beamten wieder gebraucht. Als er mit einer Stimme Mehrheit (seiner eigenen) als Bundeskanzler gewählt wurde, sprach Konrad Adenauer in seiner Antrittsrede am 20. September 1949 von einer Amnestie für manche Fehler in der Vergangenheit, von "harten Prüfungen und Versuchungen, die der Krieg und die Wirren der Nachkriegszeit" mit sich brachten und erklärte: "Wenn die Bundesregierung entschlossen ist, Vergangenes vergangen sein zu lassen, in der Überzeugung, dass viele für subjektiv nicht schwerwiegende Schuld gebüßt haben, so ist sie andererseits doch unbedingt entschlossen, aus der Vergangenheit die nötigen Lehren gegenüber all denjenigen zu ziehen, die an der Existenz unseres Staates rütteln." Es sollte bis zum 8. Mai 1970 dauern, dass mit Bundeskanzler Willy Brandt ein westdeutscher Regierungschef das Kriegsende als Tag der Befreiung bezeichnen konnte. Die CDU/CSU versuchte das zu verhindern: "Niederlagen feiert man nicht." (bme)