Missing Link: Die Tage der Befreiung

Vor 75 Jahren kapitulierte die Wehrmacht und der II. Weltkrieg endete. Doch die wenigsten Deutschen feierten ihre Befreiung, sie sprachen von einer Stunde Null.

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Missing Link: Die Tage der Befreiung

(Bild: Dmitrijs Mihejevs / Shutterstock.com)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Am 7. Mai 1945 unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl die bedingungslose Kapitulation im US-amerikanischen Hauptquartier in Reims. Obwohl die Kapitulationsurkunde ausdrücklich die Rote Armee nannte, musste Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel am 9. Mai im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst noch einmal eine Kapitulation unterschreiben. Später einigte man sich auf den 8. Mai. Ein Tag, an dem nichts dergleichen passierte, wurde so zur mythischen "Stunde Null", die 75 Millionen Menschen in den vier Besatzungszonen erlebten. Erst 1985 wurde diese Stunde mit einer Rede des Bundespräsidenten ersatzlos gestrichen: ""Es gab keine 'Stunde Null', aber wir hatten die Chance zu einem Neubeginn. Wir haben sie genutzt, so gut wir konnten. An die Stelle der Unfreiheit haben wir die demokratische Freiheit gesetzt", erklärte Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag der Kapitulation.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Seitdem die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches sowie von Japan und Italien auf der Konferenz von Casablanca als Kriegsziel der Allierten festgelegt war, hatten sich die vier Siegermächte auf die Besetzung und Regierung Deutschlands vorbereitet. Besonders über die anstehende Entnazifizierung bzw. die "Déprussification", wie es die Franzosen nannten, hatte man sich Gedanken gemacht. Doch zum Erstaunen der Alliierten war die Umerziehung nichts, was das Volk beschäftigte: Kaum waren die Truppen der Wehrmacht verschwunden (10 Millionen gingen in Kriegsgefangenschaft), hängte man weiße Bettlaken aus dem Fenster und machte sich geschäftig ans Aufräumen. Die befürchteten Anschläge der Werwölfe oder die Attacken des johlenden Volkssturms blieben größtenteils aus.

Der Journalist Isaac Deutscher, der mit den britischen Truppen nach Deutschland kam, beschrieb im Mai 1945 im Observer die "Maiglöckchen", "die opportunistischen Industriellen, Beamte und großen Macher, die plötzlich zur 'Demokratie' bekehrt wurden, (...) mit denen die Militärregierung zusammenarbeiten muss, um einige öffentliche Dienste, Fabriken usw. wieder in Gang zu bringen." Zuvor hatte man für diese Kräfte den Ausdruck "Märzveilchen" geprägt, als sie 1933 mit derselben Leichtigkeit von der Weimarer Demokratie zum Nationalsozialismus wechselten, erklärte Deutscher seinen britischen Lesern. Als Trotzkist suchte er auf seinen Streifzügen durch die deutschen Zonen nach Überresten der Arbeiterbewegung und fand nur Apathie und Verstörung.

Bei der Mehrheit der Deutschen schaltete der Überlebenstrieb das möglicherweise vorhandene Bewusstsein der eigenen Schuld ab. Man musste aufräumen und organisieren, das "auf den Grund kommen" war angesagt und zwar in einem wortwörtlichen Sinne. Zu 45 Prozent waren die deutschen Stadtgebiete zerstört und mussten von ca. 400 Millionen Kubikmeter Schutt befreit werden. Im Amtsblatt von Mannheim, das schweren Luftangriffen ausgesetzt war, erschien am 25. April der Aufruf "Wir bauen auf": "Ganz bescheiden können wir das vorläufig nur, denn erst gilt es, Berge von Trümmern zu beseitigen, bevor wieder ein Boden gefunden wird, auf dem gebaut werden kann. Am besten fängt man damit an, den Schutt zu beseitigen, und nach einem alten Sprichwort zuerst einmal den vor seiner eigenen Tür. Damit werden wir schon fertig werden. (...) So wollen wir wieder aufbauen, zuerst ganz bescheiden, Schritt für Schritt, damit erst einmal wieder Fenster und Dach zu sind, dann werden wir weiter sehen."

Geräumt wurde von Männern und Frauen gleichermaßen, von Kriegsgefangenen und arbeitsverpflichteten Nationalsozialisten, doch der Mythos der Trümmerfrau verdrängte die reale Lage und die reale Schuld. Mehr noch als diese Arbeit musste alles mögliche beschafft und organisiert werden. Das geschah auf den Schwarzmärkten, wo alles Mögliche verhökert wurde, als Währung kamen statt der fast wertlosen Reichsmark Lucky Strike-Zigaretten zum Einsatz. Die Bevölkerung übte sich im Kohlenklau, dem "Fringsen", benannt nach einer Predigt des Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings. In überfüllten Zügen ging es auf "Hamsterfahrten" aufs Land, um im Tausch von den Bauern Lebensmittel in die Stadt zu holen – es ging nicht um Klopapier.