Österreichs Parlament fällt auf falschen Tweet herein

Franz Vranitzky lebt. Dennoch wurde des Ex-Bundeskanzlers mit einer Trauerminute im österreichischen Parlament gedacht.​ Eine Analyse.

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Franz Vranitzky hält eine Rede

Altbundeskanzler Dr. Franz Vranitzky bei einer Veranstaltung im österreichischen Parlament 2016

(Bild: Parlamentsdirektion/Johannes Zinner)

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Lesezeit: 5 Min.
Inhaltsverzeichnis

Trauer bei Österreichs Sozialdemokraten: Altbundeskanzler Dr. Franz Vranitzky ist gestorben! Gerade tagt im Parlament der Sozialausschuss des Nationalrates. SPÖ-Abgeordnete Gabriele Heinisch-Hosek informiert die Anwesenden, die sogleich eine Trauerminute abhalten. Dabei ist der 85jährige Vranitzky quicklebendig. Heinisch-Hosek soll am Dienstag einer Chatnachricht eines Bekannten vertraut haben, der wiederum auf einen falschen Tweet hereingefallen sein soll.

Jemand soll sich auf Twitter als Norbert Totschnig ausgegeben und eine Lüge über das Ableben Vranitzkys verbreitet haben. Totschnig ist Politiker der rechtskonservativen Regierungspartei ÖVP und seit Mai Landwirtschaftsminister, hat mit dem Fake-Tweet aber nichts zu tun. Weil es bei Twitter in Folge der Übernahme durch Elon Musk keine sinnvolle Verifizierung mehr gibt, ist es besonders leicht, sich auf der Plattform als wenig bekanntes Regierungsmitglied einer Alpenrepublik auszugeben.

Eine Analyse von Daniel AJ Sokolov

(Bild: 

Daniel AJ Sokolov

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Daniel AJ Sokolov schreibt seit 2002 für heise online, anfangs aus Wien. Seit 2012 versucht er als Nordamerika-Korrespondent von heise online, Kanadier und US-Amerikaner zu verstehen und ihr Wesen begreiflich zu machen.

Die falsche Nachricht machte die Runde, und weil sich schlechte Nachrichten besonders schnell verbreiten, erreichte sie alsbald Heinisch-Hosek. Das Bruno Kreisky Forum für internationalen Dialog klärte schließlich auf: "Entgegen des auf Twitter gestreuten Gerüchts eines Fake Accounts: Dr. Franz Vranitzky ist wohlauf!!!", twitterte die nach dem 1990 tatsächlich verstorbenen österreichischen Altbundeskanzler Bruno Kreisky benannte Organisation. Sie engagiert sich in Kreiskys Sinne für den Austausch von Ideen und Meinungen und die Erörterung möglicher Lösungen für erhebliche Probleme und Konflikte. Vranitzky war der erste Präsident des Bruno Kreisky Forums und ist heute ihr Ehrenpräsident.

Von 1986 bis 1997 war der liebevoll "Vranz" genannte Mann Österreichs Bundeskanzler, von 1988 bis 1997 Parteivorsitzender der SPÖ. 1991 erkannte Vranitzky in einer Aufsehen erregenden Rede im Nationalrat "moralische Mitverantwortung für Taten unserer Bürger" im Dritten Reich an. "Vieles bleibt nach wie vor zu tun", trotz bisheriger Bemühungen zur Wiedergutmachung, sagte der Sozialdemokrat, "Wir bekennen uns zu allen Daten unserer Geschichte, und zu den Taten aller Teile unseres Volkes, zu den guten, wie zu den bösen."

Gemeinsam mit Außenminister Alois Mock vom Koalitionspartner ÖVP führte Vranitzky Österreich nach einer Volksabstimmung 1994/1995 in die Europäische Union. Derzeit setzt sich Vranitzky für den Erhalt der Wiener Zeitung ein. Die aktuelle Regierung aus ÖVP und Grünen möchte die älteste Tageszeitung der Welt nämlich einstellen.

Zu der Falschnachricht über Vranitzkys Ableben hat sich laut der Tageszeitung Der Standard der Italiener Tommaso D. bekannt. Er hat schon wiederholt Prominente totgesagt, die noch leben, beispielsweise Michail Gorbatschow zehn Jahre vor dessen tatsächlichem Ableben, den Papst, Schriftsteller wie Hans Magnus Enzensberger, Elfriede Jelinek, Milan Kundera und Herta Müller oder Diktatoren wie Wladimir Putin und Baschar al-Assad samt Gattinnen. Außerdem ist D. dafür bekannt geworden, erfundene Interviews mit Prominenten veröffentlicht zu haben.

Der Vorfall steigert nicht bloß den Bekanntheitsgrad des zum Handkuss gekommenen österreichischen Landwirtschaftsministers, der die ersten zwei Monate seiner Amtsperiode auch für Telekommunikation zuständig war. Die Episode zeigt auf, wie gefährlich Falschnachrichten auf einer globalen Plattform sein können, wenn sie die Runde machen.

Auch wenn dieser Vorfall zwar peinlich, aber glimpflich, verlaufen ist, wurde doch ein Parlamentsausschuss einer standhaften Demokratie in die Irre geführt – durch einen einzelnen Italiener. Mit nur einem Quäntchen mehr krimineller Energie können globale Online-Plattformen als veritable Lügenschleudern missbraucht werden, wenn sich diese Plattformen dafür hergeben. Damit kann man Börsenkurse manipulieren, Völkermord befeuern, Menschen dazu bringen, sich unnötig in Lebensgefahr zu begeben, und, wie sich zeigt, auch Gesetzgebern alles mögliche weismachen.

Tatsächlich wird Facebook unverblümt für die Aufstachelung zum Völkermord genutzt, wie Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen vorletzten Oktober aufgedeckt hat, beispielsweise in Myanmar und Äthiopien. Facebook-Betreiber Meta Platforms gibt zwar an, sich für Civic Integrity und Sicherheit einzusetzen, hat für die meisten Sprachen der Welt aber gar nichts vorzuweisen. Von den sechs in Äthiopien verbreiteten Sprachen verstünden Facebooks Algorithmen nur zwei, wusste Haugen zu berichten: "Das sind nur die einleitenden Kapitel einer Geschichte, die dermaßen furchtbar ist, dass niemand ihr Ende lesen möchte."

Facebook-Chef Mark Zuckerberg verspricht immer wieder Besserung, setzt aber offensichtlich zu sehr auf Algorithmen und zu wenig auf Intelligenz. Für Postings reicht es nicht aus, den Text zu übersetzen und statistisch zu parsen; die Herausforderung ist, Redewendungen und Bilder im kulturellen und zeitgeschichtlichen Kontext zu erfassen. Wer den Unterschied zwischen Eiernockerl am 1. April und 20. April nicht kennt, wird noch ganz andere Winke mit Zaunpfählen fremder Kulturen nicht sehen.

Immerhin sagt Zuckerberg inzwischen manchmal, dass er Verantwortung anerkennt. Neuerdings mag er sich daran erfreuen, im Vergleich zu einem Kollegen noch gut dazustehen.

Elon Musk hat nicht nur zirka 80 Prozent aller Moderatoren gekündigt, sondern Twitters Abteilung zur Abwehr von Manipulationen durch Regierungen gleich ganz aufgelöst. Gegen gesundheitsgefährdende Falschinformationen rund um das Coronavirus geht Musks Twitter seit 23. November nicht mehr vor, obwohl sich die entsprechenden Vorschriften eigentlich nicht geändert haben sollen. Sie werden bloß nicht mehr durchgesetzt. Außerdem lässt Musk in Rahmen einer Generalamnestie fast alle gesperrten Konten wieder freischalten, darunter gut 11.000 Konten, die wegen gefährlicher Corona-Lügen gesperrt sind.

Welche Lehren wird das österreichische Parlament ziehen?

(ds)