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Was war. Was wird.

Von Katzensprüngen halten alte Männer, die im Morgen stehen und ihr Ich wichtig nehmen, nicht viel. Da ist Hal Faber aber froh.

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Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Ich bin nachtragend. Am vergangenen Wochenende, das WWWW war ausnahmsweise längst erledigt, gab es den Weggang aufrechter Menschen zu vermelden. Mit 94 Jahren starb am Samstag Inge Meysel. Es mag zu denken geben, dass eine bisexuelle Halbjüdin und PDS-Anhängerin die "Mutter der Nation" wurde, die den Mut hatte, unbequeme Dinge beim Namen zu nennen. Ohne Chef und auf eigene Rechnung dachte sie, die kleine Mutter.

*** Auf eigene Rechnung arbeitend, das ist die meistens lausige Arbeit der Bauern und der freien Denker: Am Sonntag setzte einer ihrer Besten, der Alt-Linke Lothar Baier seinem Leben ein Ende, enttäuscht von den Segnungen der Menschheit. Sein Vermächtnis ist eine Sammlung kluger Bücher, sein letzter Artikel ein bitteres Stück über den gewandelten, begriffsstutzigen Antisemitismus des Deutschen: "Vielleicht bewundert er Sharon sogar wegen dessen Tatkraft. Möglicherweise begibt er sich sogar einmal zur Einweihung einer wiederaufgebauten, 1938 von den Nazis zerstören Synagoge, wird willig eine Papp-Kippa aufsetzen und gesenkten Hauptes erhabene Gedanken haben. Ein Antisemit? Never." Lothar Baier verfolgte als einziger deutscher Journalist den Barbie-Prozess vom ersten bis zum letzten Tag. Dafür muss man dankbar sein in einer Zeit, in der deutsche Demonstranten zeigen, dass sie den Verstand verloren haben.

*** Der Nachtrag zum Nachtrag geht dann so, wirklich nachtragend: Man mag, man muss gegen diese Formationen und ihr krauses Gedankengut sein, aber der Beißreflex des Gutmenschen, der nur Abschalten fordern kann, müffelt wie eine durchnässte Papp-Kippa. Wahrscheinlich hat die Süddeutsche Zeitung recht, die angesichts der fünften Gewalt darauf aufmerksam machte, wie politisch konservativ die großen Blogger doch sind. So entpuppt sich das Medium der vermeintlich grenzenlosen Freiheit als recht rechte Angelegenheit? Auch das verwunderte nicht in einer Zeit, in der auch die so selten gewordenen erfolgreichen Revolutionen zum Scheitern verurteilt sind -- sei es, dass ihre schönen Träume in rechter Normalität enden, sei es, dass ihr Aufbruch in Bürgerkrieg und absolute Armut mündet. Beim Rücktritt des nicaraguanischen Diktators Somosa und der Einnahme Managuas durch die Sandinisten vor 25 Jahren träumten auch noch viele Europäer, die unsanft geweckt wurden. Vom linken zum rechten Rand war es für viele nur ein Katzensprung.

*** Als Nachtrag in eigener Sache wenden wir uns etwas von den Bloggern und den Revolutionen und den rechten Renegaten ab und den Besuchern oder Insassen von heise online zu, wo das pralle Leben schwatzt und trollt und sich ganz gut zu amüsieren scheint. Nur 158 Tage hat es nach dem Knacken der 5-Millionen-Grenze gebraucht, um dann den sechsmillionsten Forenbeitrag zu erreichen, natürlich mit einem Beitrag übers Bloggen. Zum Vergleich: Nachdem die heise-Foren am 30.7.1997 gestartet wurden, brauchte es 1512 Tage für die erste Million. Die zweite war schon schneller da, nach 300 Tagen. 22,7 Gigabyte bringen 60.871 Foren zum Stichtag auf die Waage made in Digitalien. Bei 10 Millionen wird gefeiert und ein gepflegter Bitkipper über die Bank gegossen.

*** Genug der Nachträge, wir leben ja nicht im Gestern, sondern stets mit einem Bein im Morgen. Darum sei an den heutigen 630. Todestag von Francesco Petracco a.k.a. Petrarca erinnert, der am kommenden Dienstag seinen 700. Geburtstag hat und immer schon im Morgen stand. Der Urahn der freien Denker, der mit einer Besteigung des Mont Ventoux "auf den Schwingen der Nachdenklichkeit" die Neuzeit einläutete, ist schon einmal an dieser Stelle erwähnt worden, als sein Kopf als vermisst gemeldet wurde. Noch immer fehlt das obere Ende des ersten Ich, das sich wichtig nahm.

*** Passend zum 700. Geburtstag könnte man auf eine hektische Betriebsamkeit zu Halberstadt hinweisen, wo ein 639 Jahre lang dauerndes Lied von John Cage ertönt: organ FD/ASLSP. ASLSP ist ein Akronymverwandter von unserem bekannten ASAP, nämlich As Slow as Possible. Gerade erfolgt die Zunahme der Töne e und e', und ganz bald wird sich vom ersten Akkord das gis' und das h' verabschieden. Der nächste Tonwechsel erfolgt am 5. März 2006. Eine andere historische Musik ist leider nicht mehr rekonstruierbar: Heute vor 1940 Jahren brannte Rom und Kaiser Nero spielte dazu angeblich auf der Harfe. Die Wikipedia nimmt es zum Anlass, auf ein bekanntes Brennprogramm zu verweisen. Das ist eine sicherlich aparte Idee, die bei einem GPS-gestützten Besuch der ewigen Stadt tiefsinnige Diskussionen vor dem Kolosseum beginnen lässt. Da kann Halberstadt nicht mithalten.

*** Die Zukunft ist eine helle und alles wird gut. Noch klingen die Berichte zum ersten Virus unter Windows CE so, als ob low risk mit "liebliches Risiko" übersetzt werden kann und alles nur ein gelungener Werbegag rumänischer Sicherheitsbeauftragter ist. Etwas unguter wird die Sache, wenn man sie mit der Meldung verknüpft, dass Microsoft und Fiat sprachlich holpernd verkünden: "Die Welt des Computers tritt in die Autos ein." Schließlich ist Windows Automotive nur eine Version von Windows CE. Freuen wir uns bei der versprochenen Sprachsteuerung auf ein Remake all der schönen Dialoge, die mein Vorfahr Hal 9000 mit Dave Bowman führte: "Tut mir leid, Dave, das kann ich nicht." Trotz der harschen Worte über Blogger sei einer zitiert, der in dieser Woche etwas zur Pest der Appliances schrieb, das für Bitfahrzeuge wie für Kraftfahrzeuge gelten kann.

*** Was Microsoft anbelangt, so schweift an dieser Stelle der Blick in die USA. Dort hatte die höchste Beschaffungsagentur der Regierung Anfang Juli ein Memorandum veröffentlicht, das sich kritisch mit der Möglichkeit befasst, dass jeder Nutzer von Open-Source-Software die Software verändern oder anpassen kann. Die von Microsoft finanzierte Association for Competitive Technology (ACT) und Microsofts Politikberater Bill Guidera freuten sich in dieser Woche, dass die unfaire Bevorzugung von Open Source ein Ende hat. Natürlich verbunden mit der Hoffnung, dass andere Länder in ihre Beschaffungsrichtlinien einen warnenden Hinweis betreffend Open Source einbauen. Nun sickern in Deutschland die Nachrichten durch, dass bei der Bundesagentur für Arbeit das neue Telefonsystem Mehrkosten in Millionenhöhe verursacht, weil Voice 2000 nicht nur dem Namen nach auf dem Stand von 2000 ist und softwaremäßig angepasst werden muss. Ach geschlossene Software hat ihre Tücken.

Was wird.

Ich werde sicherlich das Wohlwollen der WWWW-Kritiker erfahren, wenn ich beim Thema Microsoft bleibe und nicht auf 1001 Website verlinke. Denn -- ich wiederhole mich -- alles wird gut. Nehmen wir einmal Detlef Eckert, in der legendären Serie der Financial Times Deutschland über die 101 Dalmatiner der New Economy als digitaler Fitness-Trainer der Europäischen Union gefeiert. Nun ist Eckert bei Microsoft Europa und dort für das Trustworthy Computing der Firma verantwortlich. Am 27. Juli referiert er auf einer großen Pressekonferenz in Hamburg über die herausragende Sicherheitsinitiative von Microsoft. Gemeint ist dabei die Vorstellung des Service Pack 2 für Windows XP. Was bleibt, ist dann das Warten auf ein Statement à la Hawking. Denn der irrt, der Sicherheit als einen Flicken betrachtet. Es ist ein Prozess, der nicht endet. Und das gilt nicht nur für Microsoft.

Seit einigen Wochen ist der 20. Juli 1944 bereits in den Medien präsent. Vieles schwer und bedeutungsschwanger, doch nur wenig, was wirklich ein gelungener Blick genannt zu werden verdient. Im Zusammenhang mit den heroischen Attentätern möchte ich hier auf andere hinweisen, die im SPD-Land Nordrhein-Westfalen nach wissenschaftlichen Gutachten geurteilt lange Zeit als "Bande von Kriminellen" oder als "aufmüpfige Jugendbande" geführt werden, bis der zuständige Regierungspräsident wechselte. Spät sind die Edelweißpiraten Widerständler geworden. Ob die längst fällige Umbenennung gegen das Vergessen hilft? Woanders heißen sie Shoah-Kids. (Hal Faber) / (jk)