Was war. Was wird. Von Wahlkrämpfen und anderen Befindlichkeiten
Gibt es eine elektronische Demokratie? Nach dem Verfliegen all der Netz-Utopien scheint das unwahrscheinlich. Hal Faber mag aber nicht aufgeben.
Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.
Was war.
*** Apropos Contenance: So, wie es momentan aussieht, wird Olaf Scholz der nächste Bundeskanzler, die Völkerrechtlerin Annalena Baerbock Außenministerin und die Programmiererin Saskia Esken wird das neue Digitalministerium aufbauen. Die interessante Frage ist, wer das Innenministerium leiten wird, wer Herrscherin oder Herrscher über den Staatstrojaner wird und die "Visa on Arrival" konzipieren wird, die das Einwanderungsland Deutschland braucht, nicht erst seit der Katastrophe von Kabul. Horst Seehofer wird so oder so nicht in der nächsten Bundesregierung sein, seine Zeit ist abgelaufen. Hinter einer Paywall steht ein Artikel, der über die "300.000 bis 5 Millionen" afghanischer Flüchtlinge rätselt, die nach Seehofers Angaben im Innenausschuss auf Europa zurollten. Ohne Paywall kann man bei Werner Schiffbauer lesen, wie das Ortskräfte-Debakel zustande gekommen ist. Der Artikel enthält hübsche Zitate: "Die negativen Folgen der Visumsfreiheit trägt der Innenminister, nicht der Außenminister. Im Außenministerium werden solche Bedenken eher als kleinkariert empfunden, während man im Innenministerium die Haltung eines Außenministers als sorglos und leichtfertig betrachtet", so das Fazit des ehemaligen Innenministers Thomas de Maiziére. Noch klarer schrieb es ein Referatsleiter der Abteilung M im Innenministerium, die die Visapolitik koordiniert: "Das Ausländerrecht ist per se eine Werteentscheidung für ein bestimmtes Ordnungsgefüge", schrieb Hans-Georg Maaßen in seiner Dissertation. Der Souverän bestimmt über den Ausländerstatus, er definiert den signifikanten Anderen, in dem jeweils die größte Bedrohung der öffentlichen Ordnung gesehen wird.
*** Und sonst so? In einer Art Bilanz der Arbeit der abdankenden Bundesregierung wird die Bundesumweltministerin Svenja Schulze von der Tagesschau zur vielleicht erfolgreichsten Ministerin im Kabinett Merkel erklärt. Begründet wird es mit der Einführung des CO2-Preises und dem Klimaschutzgesetz, das allen anderen Ressorts CO2-Einsparziele vorschreibt, die kurz vor dem Ende der Ära Merkel noch einmal verschärft wurden. Nun hat Svenja Schulze mit einer neuen Kampagne für Diskussionen gesorgt. Ihr prominent auf die Digitalisierungs-Seite des Ministeriums gestellter Satz "Wenn wir die Digitalisierung unverändert fortsetzen, wird sie zum Brandbeschleuniger für die ökologischen und sozialen Krisen unseres Planeten. Wir brauchen eine Trendwende", sorgte unter manchen Nerds für Empörung und wurde als typischer Neuland-Sprech abgetan. Doch wer den Link im Satz folgte, landete bei der Ankündigung des digitalen Produktpasses für Batterien in Elektrofahrzeugen. So schlecht ist die Idee nicht, einen Datensatz anzulegen, "der die Komponenten, Materialien und chemischen Substanzen oder auch Informationen zu Reparierbarkeit, Ersatzteilen oder fachgerechter Entsorgung für ein Produkt zusammenfasst". Neben den Batterien in den Kraftwagen gilt das auch für Smartphones und andere IT-Gerätschaften. Ganz nebenbei: Tatsächlich hat die ach so fähige Svenja Schulze einen Satz auf ihrer Website hinterlegen lassen, der wirklich unsinnig ist: "Jedem Algorithmus muss Umweltschutz eingepflanzt werden." Ja, dann macht mal. Ist der LZ77-Algorithmus von Abraham Lempel und Jakob Ziv, dem wir unsere schmucken kleinen Zip-Dateien verdanken, nicht schon ein kleines Stückchen Umweltschutz?
*** Wenn gewählt wird, spielen Computer eine wichtige Rolle. Das gilt nicht nur für die Massen an Sonntagsfragen-Rechner oder die Hochrechner, die sich gerne mal verrechnen, sondern auch für die schnüffelnden Wahlkämpfer-Apps, die alle möglichen Daten sammeln. Auch das Internet spielt seit 1992 eine wichtige Rolle, als Brewster Kahle und Thinking Machines den Wide Area Information Server (WAIS) für den Wahlkampf von Ross Perot zum Laufen brachten. Es lohnt sich, das Video-Interview mit Brewster Kahle zu sehen, denn damals wurde der Traum einer elektronischen Demokratie geträumt, ohne dass ständig von Digitalisierung geredet wurde wie heute. WAIS war visionär, doch nicht wahlentscheidend: Perot nahm sich seinerzeit selbst im Sommer 1992 aus dem Rennen, nur um im Oktober wieder einzusteigen. Das kostete ihn viele Stimmen. Auf die Experimente mit WAIS berief sich später die skandalumwitterte Firma Cambridge Analytica, die bei Trumps Wahlkampf kräftig mitgeholfen hatte und auch beim britischen Entscheid für den Brexit eine Rolle spielte. Das bringt uns zu einem weiteren paywallgeschützten Artikel mit dem Spaßvogel Martin Sonneborn von der PARTEI. Der humorgeplagten Truppe wurde ein PR-Angebot der Londoner Firma New Century Media unterbreitet, den Wahlkampf für 850.000 Euro so aufzubrezeln, dass die PARTEI über die 5-Prozent-Hürde kommt. Der erste Schönheitsfehler viel schnell auf: Die PARTEI sollte sich nach den Vorschlägen der PR-Berater zu einer Art AfD-Light umbauen. Der zweite Fehler kam nach einer Recherche des Journalisten Peter Kreysler ans Tageslicht: Bei Century New Media sind eine Reihe von Mitarbeitern beschäftigt, die auch bei Cambridge Analytica arbeiteten, bis die Firma Pleite ging. Warum sie die PARTEI von ihrem satirischen Kurs abbringen wollten, wird noch zu klären sein. Doch der Kurs wird beibehalten, sagt Sonneborn im Interview: "Wir betreiben Politik aus einer ehrlichen Empörung heraus. Satire ist immer Notwehr: Sie sucht die Befreiung im Lachen."
*** Kicher, Kicher, Grübel, Grübel, stöhn! Ja, da steht uns was bevor, worauf man nur mit ein paar Erikativen antworten kann. Das Beste daran ist, dass sie nicht gegendert werden können, die hübschen Wörter wie Klickeradoms und Gazong. Allenfalls beim Rüsselschnurps könne man sich eine Schnurpsrüsslerin und den diversen Rüsselschnurps vorstellen. 70 Jahre wird das Micky-Maus-Magazin alt, da kann man schon mal Freu, jubel, ächz titeln. Denn auch die Micky-Maus-Welt hat sich geändert, wie der Feuilletonist notiert: "Dafür laufen Enten, Hundenasige und Mäuse mittlerweile mit Smartphones herum, arbeiten am Laptop und surfen im Entnet. Sie lesen etwas auf Duckipedia nach und schauen Videos bei Dutube."
*** 70 Jahre Micky-Maus-Magazin, 80 Jahre Charlie Watts. Es gibt viele Videos bei Youtube, in denen Watts zu sehen ist, aber wenige, die so aufschlussreich sind wie das Interview mit Ed Bradley in dem Watts sagt: "Klasse ist real, kein Fake." Er kam von unten und wusste, was Klassenkampf ist. Vielleicht braucht es britischen Humor, diesen Mann zu würdigen, so wie ihn die Schriftstellerin A.L. Kennedy hat: "Jetzt leben wir in einem Land, in dem 80-Jährige wie Charlie Watts als überflüssig betrachtet werden. So wie alle über 50, alle Nichtweißen oder EU-Bürger, jeder, der versucht, bei der Überquerung des Ärmelkanals nicht zu ertrinken, jeder, der Ertrinkende retten will, alle, die Asyl beantragen und nicht von einer Wagenladung süßer Hunde begleitet werden. Aber Charlie war nicht überflüssig, niemand ist überflüssig. Und die Leute, die entscheiden, wer stirbt, sind keine Experten. Sie tun nichts aus Liebe. Sie würden Großmut nicht erkennen, und wenn er ihnen in den Hintern beißt, vielleicht tut er das. Ich kann mir vorstellen, dass der Großmut genauso die Schnauze voll hat wie wir. Charlie war das Gegenteil von all dem." Ja, da muss uns Nandi Trost spenden.
Was wird.
Während im schönen Hannover die Experimentierräume eine weitere Chance bekommen sollen, vermessen wir von Hannover aus ab Montag unverdrossen das Neuland und verseuchen unsere Kinder in den Schulen. Es heißt ja Zukunft und nicht Zukimpft. Wer das für ein schwachsinniges Argument hält, kennt die Argumente nicht, mit denen heute bei den Querdenkern über das Tier-Entwurmungsmittel Ivermeticin gesprochen wird.
Ist der kommende Dienstag ein Feiertag? Leider nein, doch er hätte das Zeug dazu. Wer im Bundestagswahlkampf das klägliche Kandidaten-Gemaule hört, dass sich das Jahr 2015 nicht wiederholen darf, könnte sich einmal daran erinnern, das am 31. August die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel den Satz Wir schaffen das aussprach und sich damit in die Geschichtsbücher einschrieb. Auch wenn das Desaster in Kabul Merkels Regierungsbilanz verhagelt, so muss diese kleine Mutmachung in kollektiver Erinnerung bleiben, wenn die Regierung in "Schimpf und Schande" abtritt. Nun, ganz so harsch wird es wohl nicht werden. Und bei zu viel Furor hilft, wie gesagt, Kaltes Klares Wasser.
(jk)