4W

Was war. Was wird. Von der Toleranz für die Intoleranz und anderen Fingerzeigen.

Hal Faber staunt, was "deutsche Patrioten" aus der Zahl 21 machen. Bei der nächsten versuchten Regierungsübernahme wird hoffentlich die exakte Zeit genommen.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 102 Kommentare lesen
Was war. Was wird. Von der Toleranz für die Intoleranz und anderen Fingerzeigen.

(Bild: ra2 studio / shutterstock.com)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** So kann man sich irren: Weder 23 noch die 42 sind Zahlen, die unser Leben bestimmen und formen. Die Zahl der Zahlen ist 21, entstanden aus der Plutimikation von drei mal sieben. Hätte die von "deutschen Patrioten" am letzten Samstag durchgeführte "Erklimmung des Reichstags" 21 Minuten lang gedauert, dann hätte sie "völkerrechtlich und auch nach angloamerikanischen Recht diese Regierung in Abwesenheit absetzen können und dies völlig legitim." Diese mir bislang unbekannte Form einer Regierungsübernahme durch Erklimmung und 21-minütige Ausharrung wurde von drei, später von 250 Polizisten verhindert, die von der wegmüssenden Angela Merkel bezahlt wurden. Beim nächsten Volkssturm wird das anders sein, mit offizieller Zeitmessung durch den Verband deutscher Heilpraktiker:innen. Wo sind bloß Christo und Jeanne-Claude, den Reichstag zu verpacken und so völlig legitim dem deutschen Volke sein Haus vor denen zu schützen, die nach altem römischem Recht den Ort als terra nullius deklarieren wollen?

Die "lieben Patrioten" sollen nicht "sehr viel Spekulationen" hinterherlaufen, sondern sich gleich an eine halten, die ihrem Interesse an "legitimer" Absetzung der Regierung entgegenkommt.

*** Wahrscheinlich hat sich Andy Warhol verrechnet, als er annahm, dass in Zukunft jeder 15 Minuten weltberühmt sein wird. Es sind sicher 3 × 7 = 21 Minuten, eben jene Zeit, die Elon Musk in seinem Privatjet von Braunschweig nach Berlin geflogen ist. Gehört ihm das Land nach "angloamerikanischem Recht"? Zumindest liegt es ihm zu Füßen, wenn man all die CDU-Politiker:innen betrachtet, die dem "guten" Unternehmer huldigten. Anja Karliczek, Ralph Brinkhaus, Peter Altmaier und Jens Spahn waren da, nur der Berufswelpe Philipp Amthor fehlte. Dabei läuft es doch so gut für ihn, wie Lobbycontrol in dieser Woche mit großem Bedauern feststellen musste: Das geplante Lobbyregister hat zahlreiche Lücken, etwa die Anonymisierung von Auftraggebern, wenn es sich um Regierungen handelt. Schande über den, der Gutes dabei denkt.

*** Reich und berühmt oder zumindest mehr als 21 Minuten berühmt sein, wer will das nicht. Schon die Kinder träumen davon, als Vlogger und Influencer das schöne Leben zu führen und als virtueller Starschnitt in der Bravo zu erscheinen. Zumindest im Westen, während sie in China ganz altmodisch Taikonauten werden wollen. Mit seinem Appell für freie Debattenräume hat es der Vlogger Gunnar Kaiser geschafft, berühmt und einflussreich zu werden. Neben den üblichen Verdächtigen aus dem rechtsbraunen Debattenraum haben aufrechte Menschen wie Ilja Trojanow und Alexander Kluge die schlecht gemachte Kopie eines Appells unterschrieben, der zuvor im Harper´s Magazine erschienen war. Den habe ich hier kommentiert. Der deutsche Appell ist schlecht, weil er nicht von "Demagogen aus dem rechten Lager" spricht, vor denen das Harper´s Magazine explizit warnte. Dafür jammert er allgemein über "Schriftsteller, deren Bücher aus dem Sortiment genommen oder von Bestsellerlisten getilgt werden". Gemeint ist das Buch "Finis Germania" von Rolf Peter Sieferle, das im rechtsradikalen Verlag Antaios-Verlag erschien und von der Bestsellerliste des Spiegels genommen wurde. Neben dem Appell gibt es ein Youtube-Video, mit #philosophie getaggt, unter dem Viele kommentieren, die keine "Windel im Gesicht" tragen wollen.

*** In weiteren Kommentaren wird über die "Mainstream Medien" (MSM) gelästert, die angeblich im Dienst der Regierung stehen. Solche Vorwürfe sind bekannt, doch nun ist eine Studie erschienen, die die Einstellung von Lehrer:innen untersucht hat. Sie wird hier so zusammengefasst: "Ein erstaunlich großer Teil der Lehrkräfte steht Medien ablehnend oder feindselig gegenüber – oder geht implizit davon aus, dass in Deutschland keine Pressefreiheit existiert. Was bleibt wohl bei den Schülern haften, wenn Lehrer so denken? Eine regelmäßige Fortbildung der Lehrkräfte in allen Formen der Medienkompetenz soll das ändern. So eine Fortbildung könnte auch den Journalist:innen helfen, die all das Recherchieren und Aufschreiben oder Aufzeichnen als Bullshit-Job begreifen.

*** David Graeber ist tot. Wahlweise wird er in den Nachrufen als Anarchist, Gründer von Occupy oder Professor an der London School of Economics bezeichnet. Von ihm stammt die Definition des Bullshit-Jobs als vollkommen sinnlose Tätigkeit, die der Gesellschaft nicht nutzt und dem Einzelnen die Selbstachtung nimmt. Bullshit-Jobs definierte Graeber als "Arbeit, deren Existenz selbst der Mensch nicht rechtfertigen kann, der sie ausübt." Dagegen setzte Graeber auf das bedingungslose Grundeinkommen. Empirisch wichtiger war sein Buch über "Schulden: Die ersten 5000 Jahre", das in diesem Gespräch erklärt wird. Sein deutsches Publikum begeisterte Graeber auf dem 36C3 des Chaos Computer Clubs in Leipzig mit dem Vortrag über die Revolte der pflegenden Klasse. Ja, es klingt wie aus fernen, doch prophetischen Zeiten, wenn man bedenkt, dass etwa 17.000 Besucher da vor ein paar Monaten in Leipzig unter dem Motto "Resource exhaustion" zusammenkommen konnten. Das wird in diesem Corona-Jahr nicht möglich sein, weshalb der Club mit rC3 die Remote Chaos Experience startet, bis es zur Remote Code Execution kommt. Man wird sich online treffen – oder "im lokalen Hackspace mit deiner bevorzugten Infektionsgemeinschaft".

*** Remote Chaos Experience, das erinnert einen alten Sack wie mich an das Love and Peace-Festival auf Fehmarn, das heute vor 50 Jahren mit dem Auftritt der Jimi Hendrix Experience seinen Höhepunkt hatte. So war es angekündigt, auch wenn die Band dann eine andere Besetzung hatte. Auch von "Love and Peace" konnte keine Rede sein, denn erstens war es bitterkalt und regnerisch. Zudem terrorisierten Rocker das Festival. Aber egal, in der Forschung ist nun vom europäischen Woodstock die Rede und "Das Chaotische – Zelten im Schlamm etwa – wird heute zum Programm, das wissen die Leute vorher." Zumindest sollte man hinzufügen, dass das kleine Chaos-Festival auf Fehmarn vom wirklich großen Chaos-Festival auf der Insel Wight abstaubte. Wenige Tage nach dem Auftritt auf Fehmarn starb Jimi Hendrix und seine Seele spannte weit ihre Flügel aus.

Seit dieser Woche haben wir Gewissheit: Datenschutz ist, wenn man gar keine Daten hat. Das hat die Bundesregierung auf eine schriftliche Anfrage eines Abgeordneten zur elektronischen Patientenakte geschrieben. "Es handelt sich bei der ePA zur Wahrung der Patientensouveränität um eine freiwillige Anwendung. Schon in der ersten Umsetzung ab dem 1. Januar 2021 können die Versicherten frei entscheiden, welche Daten im Einzelnen in der ePA gespeichert werden und welche Daten eben nicht in die ePA aufgenommen oder aber wieder gelöscht werden. Frei entscheiden können die Versicherten ebenfalls, welcher Ärztin und welchem Arzt sie Zugriff erteilen oder aber versagen wollen, und nötigenfalls einzelne Dokumente in einem geschützten Bereich speichern. Elegant wird hier die nächste Stufe der ePA-Umsetzung ausgeblendet, wenn Versicherte bestimmte Daten vor dem Besuch einer Praxis ausblenden wollen. Stattdessen wird ein geschützter Bereich erwähnt, in den Versicherte ihre Daten per cut & paste umkopieren können, um sie später wieder in die eigentliche Akte zu kopieren. Das ist Datenschutz auf Krücken und es bleibt spannend, wie der Bundesdatenschutzbeauftragte auf diese Interpretation reagiert. Noch will er alle Krankenkassen anschreiben und sie vorwarnen.

Auf Fehmarn legte Jimi Hendrix seinen letzten Live-Auftritt hin. Es war regnerisch und bitterkalt und es gab kein "Love & Peace", aber wenigstens die richtige Tonart zu hören.

Das Führen einer elektronischen Patientenakte ist freiwillig. Genauso freiwillig kann man seine Fingerabdrücke auf dem elektronischen Personalausweis speichern oder es sein lassen. Das soll sich ändern: In der kommenden Woche will der Bundestag entscheiden, dass die Fingerabdrücke auf den Ausweis kommen. Damit wird einer europäischen Richtlinie entsprochen, für die sich auch die Regierung starkgemacht hat. Bisher hat die biometrische Erfassung der Fingerabdrücke beim Personalausweis, anders als beim Reisepass, praktisch keine Rolle gespielt, jedenfalls ist nach einer reichlich subjektiven Umfrage die Fingerkontrolle bei der Ausweiskontrolle nicht bekannt. Das Argument der Fälschungssicherheit ist ebenso zweifelhaft, denn diese Fälschungssicherheit soll durch einen weiteren anstehenden Beschluss des Bundestages hergestellt werden, durch den das Morphing unterbunden werden soll: Fotografen werden verpflichtet, Passbilder über eine "sichere Übermittlung" direkt an die Ausweisbehörden zu übermitteln. Wie diese sichere Übermittlung ausgestaltet wird, dürfte das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik bestimmen. Lange Rede, kurzer Sinn: Wer jetzt bis zum Frühjahr einen Personalausweis beantragt, ist auf der datenschutzsicheren Seite. Ab dem 2. August 2021 gilt die Speicherpflicht für den rechten und linken Zeigefinger.

(tiw)