Ablenkung und Dauerstress: Wie Handys und digitale Medien das Hirn beeinflussen

Seite 2: Hirn-Überlastung durch zu viele Informationen

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Dass digitale Techniken in diesem wichtigen Hirnteil Spuren hinterlassen, berichten auch die Experten vom Leibniz-Institut für Wissensmedien in Tübingen. Untergebracht in einem imposanten Gelbklinkerbau, mit Blick auf die mittelalterliche Innenstadt, erforschen rund 90 IWM-Wissenschaftler, wie Computer, Tablets und Internet Lernen und Lehren verbessern können. Sie nutzen – ähnlich wie die Magdeburger Forscher – auch Eye-Tracking und EEG-Hauben.

"Digitale Medien sind per se weder gut noch böse", stellt Psychologie-Professorin Ulrike Cress, Direktorin des Instituts, klar. "Sie haben bestimmte Eigenschaften, die das Denken beeinflussen. Wir analysieren, wie wir Medien besser nutzen, um Lernprozesse zu erleichtern. Und wie wir negative Effekte vermeiden, etwa – bezogen auf das Internet – die Überlastung des Gehirns durch zu viele Informationen."

Arbeitsgruppenleiter Peter Gerjets hat zum Stichwort Überlastung ein Beispiel parat: "Lesen und Lernen im Internet ist anders als im Buch", sagt er. "Das liegt daran, dass digitale Texte andere Funktionalitäten enthalten als analoge, gedruckte Texte."

Grundsätzlich gilt, dass Lesen, anders als Sehen und Sprechen, nicht biologisch angeboren ist, sondern erlernt wird. Das heißt, dass das Gehirn die breiten Lese-Straßen, die Netzwerk-Verbindungen der Zellen, erst anlegt. Wobei ein Mensch beim Lesen Hochleistungen vollbringt: Das Gehirn muss blitzschnell Zusammenhänge bilden, unsinnige Wortbedeutungen unterdrücken und vieles mehr.

In Versuchen ließen die Tübinger ihre Testpersonen Wikipedia-ähnliche Texte, die Links zum Weiterklicken enthielten, zum Lernen nutzen. Und im Vergleich dazu Texte ohne Verlinkungen. Das Ergebnis: Links bedeuten Ablenkung. "Schaut man auf das gleiche Wort, wenn es als Link markiert ist, wird die Pupille messbar größer, ein Indikator für kognitive Belastung." Das Gehirn springt an, und zwar das Arbeitsgedächtnis. Dabei werden offenbar Ressourcen benötigt, die auch zum Lernen wichtig sind. Das Lern-Ergebnis kann sinken.

"Das Spannende ist: Links lenken sogar dann ab, wenn sie nicht aufgemacht werden – nur weil sie vorhanden sind", berichtet Professor Gerjets weiter. "Sogar wenn wir Testpersonen sagen, sie sollen die Links nicht anklicken, sondern sich nur auf ihr Lernziel konzentrieren, können wir zeigen, dass die Lernleistung sinkt." Die Erklärung: Der Link kann einen Impuls im Kopf auslösen, den Wunsch auf die neue Netzseite zu springen. Den muss das Gehirn unterdrücken. "Und auch ein Unterdrücken belastet das Arbeitsgedächtnis."

Ablenkung, Unterdrücken von Impulsen, Lernen – alles fordert seinen Teil der begrenzten Ressourcen. Wie der Zusammenhang genau ist und wie sich das langfristig im Kopf niederschlägt? Peter Gerjets' Antwort: Da muss man weiterforschen.

Ähnliche Reaktionen der Überforderung vermuten die Fachleute, wenn man sich zu komplexen, meinungslastigen Themen im Internet schlau machen will. "Denken Sie an das Thema Impfschutz, was da alles durchs Netz schwirrt, auch Fake News", sagt der Psychologe Gerjets. Man finde zwar viele Infos. Aber, und das wäre ein Mammutjob, man müsste die Quellen auf Glaubwürdigkeit prüfen und vergleichen – ebenfalls eine Aufgabe fürs Arbeitsgedächtnis. "Dann schaltet das Gehirn irgendwann in einen Stopp-Modus." Bei Internetrecherchen werden oft nur die ersten paar Links aufgerufen – dann wird abgebrochen.

Trotz solcher Alarmsignale hat der Familienvater keine Bedenken, das eigene Kind per App beim Spracherwerb zu fördern. Und beide, er und IWM-Direktorin Cress, sind sich einig: "Überforderung und Ablenkungspotenzial sind keine Argumente gegen ein Medium an sich, sondern gegen die ungesteuerte Nutzung."

Drastischer hört sich die Analyse von Maryanne Wolf an. Die Kognitions- und Literaturwissenschaftlerin aus Los Angeles hat sich voll aufs Thema Lesen spezialisiert. Genauer, auf Unterschiede zwischen Papier und Bildschirm. Sie greift Erfahrungen auf, die viele Menschen kennen: Wer regelmäßig über Stunden am Bildschirm liest, dem fällt es häufig schwerer als früher, lange Strecken auf Papier konzentriert zu meistern. Intensives Lesen wird plötzlich zum Stress.

Wolf analysiert in ihrem Buch "Schnelles Lesen, langsames Lesen", dass man digital in der Regel über weite Teile hinweg huscht. Man klopft den Text auf Schlüsselwörter ab, überfliegt den Rest. Dieses oberflächliche Scannen sei auf Geschwindigkeit angelegt. Das tiefe Eintauchen ins Geschriebene dagegen werde eher vom Papier gefördert.