Ablenkung und Dauerstress: Wie Handys und digitale Medien das Hirn beeinflussen

Seite 3: Mehr Forschung notwendig

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Passend dazu können Forscher zeigen, dass lange Informationstexte aus Büchern und von Papier im Gehirn besser erinnert werden, als wenn sie aus dem Netz gefischt wurden. Wolf warnt, dass sich das Gehirn durch die digitalen Lesegewohnheiten insgesamt daran gewöhnen könnte, flach und ungeduldig zu denken. Sie sieht die Gefahr, dass Menschen so einen Teil ihrer Fähigkeit zur Analyse komplexer Fragen verlieren. Ein Risiko auch fürs Mitdenken in der Politik, für Wahlen und Demokratie. Aber bewiesen, räumt Wolf ein, ist das noch nicht.

In eine ähnlich mahnende Richtung zielt die "Stavanger-Erklärung" von Anfang 2019. Maryanne Wolf hat sie unterzeichnet, genau wie Yvonne Kammerer vom Tübinger IWM. Darin fordern mehr als 130 Experten, das analoge Lesen weiterhin zu fördern. Parallel sollten Schüler und Studenten lernen, auch am Bildschirm verständnisorientiert zu lesen. Und sie appellieren: Forscht weiter zu diesen Themen!

"Es gibt Hinweise, dass bei Zeitdruck das digitale Lesen von Sachtexten im Vergleich zum analogen nachteilig ist – ohne Zeitdruck nicht so", sagt die 37-jährige Kammerer.

"Ich glaube, wir sind an einem kritischen Punkt", mahnt US-Autorin Wolf. Blindes Vertrauen in Technik sei ein Fehler. "Wir sollten beim Umschwenken zum digitalen Lesen nicht so schnell vorwärts gehen wie bisher. Wir sollten uns Zeit nehmen, die Vorteile digitaler Medien zu erkunden, und gucken, wie wir die Nachteile umgehen."

Der Braunschweiger Professor Martin Korte spricht ebenfalls von einem "Übergangszustand". Als Pessimist mag der Neurobiologe nicht gelten. Handys und Tablets machten junge Menschen nicht per se dümmer als ihre Eltern – seien es die zweijährige Henriette oder heutige Teenager. Das Gehirn besitze eine alte Grundstruktur. "Wir haben kein Twitter-Gehirn, und wir haben auch kein Facebook-Gehirn. Wir haben die Gehirne von einer Horde von Steinzeitmenschen, die gewohnt sind, um eine Höhle herum zu leben", sagt er. "Das wird sich sicher nicht so schnell ändern. Wir werden sicher bestimmte neue Techniken und Kompetenzen erlernen und dafür andere verlieren." (olb)