E-Stehroller: Blindenverband reichen Warntöne nicht

Der Verleiher Bolt will Warntöne nutzen, um Sehbehinderte und Blinde vor unachtsam abgestellten Rollern zu warnen. Für den Verband wäre das keine Rundum-Lösung.

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Das Problem für die etwa 1,2 Millionen Blinde und Sehbehinderte in Deutschland ist nicht allein, dass E-Stehroller unachtsam hinterlassen werden, sondern auch, dass es überall und jederzeit passieren kann.

(Bild: heise online / anw)

Lesezeit: 5 Min.
Inhaltsverzeichnis

Das Vorhaben des Verleihers Bolt, seine E-Stehroller mit einem akustischen Warnsystem auszurüsten, stößt beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) auf Skepsis. "E-Roller haben grundsätzlich nichts auf Gehwegen zu suchen", teilte der Verband auf Anfrage von heise online mit. Das von Bolt geplante System könne möglicherweise ein Restrisiko absichern, es könne aber kein Ersatz dafür sein, dass die Gehwege freizuhalten seien.

Bolt hatte anlässlich der Messe Intertraffic 2022 in Amsterdam eine Kooperation mit dem deutschen Unternehmen RTB vorgestellt. Dabei wird eine für Android und iOS verfügbare App namens LOC.id aufs Smartphone installiert, das so als "Sender" dient. Nähert sich ein Benutzer oder eine Benutzerin einer mit einem Empfänger ausgestatteten Anlage wie einer Ampel oder Straßenbahn, wird dieser erkannt, der Roller gibt ein Orientierungssignal aus.

Der DBSV wendet ein, dass Technik nicht immer funktioniert, beispielsweise könne die Verbindung zwischen Roller und Smartphone gestört oder der Signaltongeber defekt sein. Auch hätten nicht alle Menschen ein Smartphone. Umgekehrt müssten sämtliche Leih-E-Stehroller mit einem solchen System ausgestattet sein und denselben Warnton abgeben.

"Die Verleihfirmen müssen in die Pflicht genommen werden, ihre Kunden zu diszipliniertem Verhalten zu bringen, unter anderem durch feste Abstellflächen, die sie nutzen müssen. Wenn wir dann wirklich nur noch über ein Restrisiko sprechen, kann eine smarte Lösung teilweise helfen", schildert DBSV-Präsident Klaus Hahn gegenüber heise online. Bolt verbreitete verfrüht Euphorie.

Die Sache sei allerdings sehr komplex, erläutert Hahn weiter. Die App müsse so funktionieren, dass der Roller bei Annäherung des Fußgängers das Signal abgibt, sodass der Fußgänger die Richtung orten kann, wo die Gefahr lauert. "Die LOC.id dürfte dem entsprechen", vermutet Hahn. Der umgekehrte Weg, dass der Roller ein Warnsignal auf dem Smartphone des Nutzers auslöst, sei nicht akzeptabel.

"Ein Grundsatz bei der Weiterentwicklung der smarten Mobilität für sehbehinderte und blinde Menschen ist, dass das Smartphone in der Tasche bleibt und das Infrastrukturobjekt, in diesem Fall der Roller, reagiert", erklärt Hahn. "Wenn ich mit dem Langstock in der einen Hand unterwegs bin, kann ich nicht in der anderen das Smartphone tragen und den Touchscreen bedienen." Auch sei es keine Lösung, dass Blinde und Sehbehinderte ständig Headsets tragen, "die Ohren müssen frei bleiben für die Orientierung. Und wenn der Warnton auf dem Smartphone ankommt, weiß ich noch nicht, wo die Gefahrenstelle ist".

Nach Kenntnis des DBSV müsse solch ein vom Fahrzeug ausgehender spezieller Warnton vom Kraftfahrtbundesamt (KBA) zugelassen werden. Die Entwicklung des Warntons sei komplex. Der Ton müsse eindeutig und gut zu hören beziehungsweise zu orten sein, dürfe aber andere akustische Informationen nicht überlagern. Der DBSV will sich das System testen, bevor es möglicherweise vom KBA freigeben wird.

Als ein Beispiel für das Problem nimmt der DBSV die dynamischen Fahrgastinformationssäulen an vielen Bushaltestellen in Münster, die ein diskretes Auffindesignal haben. Es sei so eingestellt, dass es identifizierbar sei, wenn jemand ein paar Meter entfernt ist, aber es solle die Umgebung nicht stören. "Steht dort irgendwo ein Roller herum und piept, kann ich das Auffindesignal nicht mehr hören", sagte Hahn.

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Ein weiteres Beispiel sind Verkehrsampeln, die an den Masten akustissche Auffindesignale und bei Grün Freigabesignale ausgeben. "Sie dienen auch dazu, dass ich beim Überqueren die Richtung halten kann", erklärt Hahn. "Stehen um die Masten herum Roller, was nicht nur in Münster recht beliebt ist, behindern sie mich nicht nur beim Auffinden des Masten und beim händischen Auslösen des akustischen Freigabesignals am Taster selbst, sondern auch bei der Orientierung zur anderen Straßenseite."

Der DBSV unterstützt den Blinden- und Sehbindertenverband Westfalen in einer Klage gegen die Stadtverwaltung Münster, um dort ein Verbot des Free Floating, also stationslosem Verleih zu erwirken. In dem abgeschlossenen Eilverfahren vor dem Verwaltungsgericht konnte sich der Verband nicht durchsetzen.

Das Hauptsacheverfahren gehe weiter, erklärt Hahn, weil die Stadt sich nicht an die vom Verwaltungsgericht formulierten Eckpunkte halte. Die Stadt habe den Erlass von Sondernutzungserlaubnissen für Verleiher vom 1. April auf den 16. März vorgezogen. "Wie diese Erlaubnisse nun aussehen, wissen wir noch nicht", sagte Hahn, Abstellflächen würden in Münster wohl weiterhin nicht in Betracht gezogen.

E-Stehroller im öffentlichen Verkehr (76 Bilder)

Seit dem 15. Juni 2019 sind Elektro-Stehroller, auch E-Tretroller oder E-Scooter genannt, auf öffentlichen Straßen in Deutschland zugelassen. Schon wurden die ersten in deutschen Städten gesichtet.
(Bild: Lime)

"Die Anbieter sollen wohl verpflichtet werden, die Telefonnummer ihrer Hotline in größerer Schrift anzubringen, für blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen geradezu eine Verspottung", meinte Hahn. Außerdem sollen die Verleiher lediglich verpflichtet werden, verkehrswidrig abgestellte Roller innerhalb von zwölf Stunden wegzuräumen. "Man will also nicht der Gefährdung der Fußgänger vorbeugen, sondern sie weiterhin dulden und auch erst nach zwölf Stunden beseitigen lassen. Das erachten wir als Missachtung der vom VG vorgezeichneten Hinweise zur Ermessensausübung", resümiert Hahn.

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(anw)