Bundesparteitag der Piraten: Im Wechselbad der GefĂĽhle
Der als Wahlprogrammparteitag und Wahlkampfauftakt geplante Piraten-Bundesparteitag traf einige, aber nicht alle programmatischen Entscheidungen. Die Debatte um die ständige Mitgliederversammlung dominierte zunehmend.
Auf dem Parteitag der Piratenpartei in Neumarkt in der Oberpfalz haben die Teilnehmer ein ständiges Auf und Ab erlebt. Die ursprünglich als Wahlprogrammparteitag und Wahlkampfauftakt geplante Versammlung, an der jedes Parteimitglied teilnehmen konnte, hatte am vergangenen Freitag mit einigen Personalentscheidungen begonnen und endete am Sonntag.
Bereits am Freitagnachmittag hatten die Piraten mit der Nachwahl einzelner frei gewordener oder frei werdender Parteivorstandsposten begonnen. Im vergangenen Herbst waren Julia Schramm und Matthias Schrade noch vor dem Bochumer Parteitag von ihren Beisitzerposten zurückgetreten. Zu Beginn des Parteitags in Neumarkt folgte wie angekündigt auch der Rücktritt des umstrittenen politischen Geschäftsführers Johannes Ponader, der in den vergangenen Monaten immer wieder im Kreuzfeuer der Kritik stand und dem eine Mitschuld am Wahldebakel in Niedersachsen Anfang des Jahres gegeben wurde.
Beide Beisitzerposten wurden nachgewählt, auf den Posten des politischen Geschäftsführers wurde nach nur einer Abstimmungsrunde eine Netzaktivistin gewählt: Katharina Nocun aus Osnabrück wurde von den Parteitagsteilnehmern mit deutlicher Zustimmung zur neuen politischen Geschäftsführerin bestellt. Nocun hat ihre Heimat im Arbeitskreis gegen Vorratsdatenspeicherung (AK Vorrat), einem losen Zusammenschluss netzpolitischer Aktivisten, zu dem auch der schleswig-holsteinische Piratenfraktionschef Patrick Breyer und der FDP-Bundestagsabgeordnete Jimmy Schulz gehören.
Die Piraten wollten sich im Verlauf des Parteitages vor allem mit der Erweiterung ihres Partei- und Wahlpogramms widmen. Am Samstagvormittag wurde ein ganzes Antragspaket fĂĽr gut befunden; darin wurden unter anderem Positionen zur Rechts- und Innenpolitik (die Ablehnung des Bundestrojaners und der Vorratsdatenspeicherung), in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik (Abschaffung von 1-Euro-Jobs, EinfĂĽhrung eines bedingungslosen Grundeinkommens) beschlossen.
Auch eine kleine Positionierung in der Außen- und Sicherheitspolitik konnten die Piraten finden: "Wir sind friedliebend, aber keine Pazifisten. Wir setzen uns verantwortungsbewusst und verlässlich für die Menschen- und Bürgerrechte global ein", meinte Fotios Amanatides, Koordinator der Bundes-AG Außenpolitik, dazu. Andere Themen wie Wirtschaft, Finanzen und Europa vertagten die Piraten jedoch vorläufig. Anschließend widmeten sich der Parteitag zuerst einmal den auf Außenstehende etwas nebensächlich wirkenden Themen wie der Pyrotechnik in Stadien und der Rolle der Fans im Sport.
Doch im Hintergrund schwelte schon vor dem Beginn des Parteitags eine Diskussion, die den Parteitag in seinem Verlauf immer mehr dominieren sollte: die Debatte um eine ständige Mitgliederversammlung, im Piratenjargon kurz SMV genannt. Die Piraten wollten in Neumarkt ein Online-Tool etablieren, mit dem die Mitglieder auch zwischen den Parteitagen über Programme und Inhalte beraten und entschließen könnten. Unterschiedlich weitreichend waren die Ideen für diese Ständige Mitgliederversammlung, die Kompetenzen für die Onlineparteitage reichten von gleichrangig mit den Offlineparteitagen bis hin zu nur leichten Weiterentwicklungen der derzeit bei den Piraten genutzten Meinungsbildungsplattform LiquidFeedback.
Um genau diese Idee stritten die Piraten schon im Vorfeld des Parteitags intensiv. Am Freitagabend wurde bis Mitternacht lebhaft um die SMV gestritten. Am Schluss des Tages erzielten die am weitesten gehenden "Hardcore-SMV"-Anträge nicht die notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheiten, die für die entsprechenden Satzungsänderungen notwendig gewesen wären. Die Debatte um die SMV sollte daraufhin am Samstagabend fortgesetzt werden. Doch nach einer Vielzahl Geschäftsordnungsdebatten und den Erfahrungen vom Vorabend unterbrach die Versammlungsleitung am Samstagabend den Parteitag bis zum Sonntagmorgen – am Freitagabend sollen nach 21 Uhr sechs Menschen in Neumarkt körperlich so erschöpft gewesen sein, dass sie sich in Behandlung begeben mussten.
Als die SMV-Debatte am Sonntagmorgen wieder aufgenommen wurde, wurden die etwas weniger weit gehenden Anträge diskutiert. Bei den meisten von ihnen sollten die Piraten online nur noch über das Programm bestimmen – manche Piraten standen der Grundidee der Onlineparteitage jedoch grundsätzlich skeptisch gegenüber, da hier mehr Manipulationsmöglichkeiten gesehen wurden; auch die nicht gewährleistende Anonymität bei Abstimmungen in einer ständigen Online-Mitgliederversammlung wurde kritisiert. Dass jedoch mehr Beteiligung auch außerhalb der Parteitage notwendig wäre, stellte kaum einer der Redner in Frage – weshalb es selbst Anträge gab, die dezentrale Wahlvorgänge mit Zettel, Stift und Urne vorschlugen.
Nur: Die notwendige Zweidrittelmehrheit konnte keiner der Anträge erreichen. Die Stimmung in Neumarkt erreichte daraufhin ihren vorläufigen Tiefpunkt. Auch die Wahlkampfrede von Parteichef Bernd Schlömer konnte daran wenig ändern, auch wenn sie den Piraten Mut machen sollte und in der Schlömer den politischen Gegener angriff. Insbesondere an der SPD übte Schlömer scharfe Kritik: Diese sei die Partei, die Hartz IV erfunden habe, die bei der Netzpolitik unglaubwürdig sei – er wünsche Steinbrücks Schattenkabinettsmitglied Gesche Joost viel Glück.
Am Sonntagmittag dann eine erneute Kehrtwende: Den Piraten war ein Verfahrensfehler aufgefallen, die Abstimmungen über die Ständige Mitgliederversammlung waren nicht vollständig zu Ende geführt worden – weshalb die Debatte wieder aufgenommen und fortgesetzt wurde. Doch das Ergebnis der Übung war wiederum kein dauerhaft tagender Onlineparteitag. Gegen 18 Uhr endete der Parteitag der Piraten in Neumarkt – die meisten der noch anstehenden programmatischen Entscheidungen wurden wegen der Debatte um die Ständige Mitgliederversammlung am Sonntag verschoben oder nur im Schnelldurchgang behandelt. (jk)