"Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht": Galadriels Sturm-und-Drang-Zeit

Seite 2: Altes und Bewährtes trifft auf neue Ideen

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Ein gelungener neuer Ansatz ist, die Elben auf Mittelerde als Besatzungsarmee im Land der Menschen darzustellen. Zwar haben die "Spitzohren" nur das Wohl der Südländer im Sinn, da diese aber nicht über die unglaubliche Lebensspanne der Elben verfügen, haben diese Morgoth und Sauron seit Generationen vergessen und nehmen die Elben nicht als Beschützer, sondern als hochmütige Besatzer war. Und ganz Unrecht haben sie nicht, denn es wird im Laufe der beiden Folgen immer deutlicher, dass auch die Elben den Menschen misstrauen, weil diese in der Vergangenheit zum Teil mit Morgoth verbündet waren. Umso tragischer wird dieser Umstand, wenn der Zuschauer die zwischenzeitlich eingeblendeten Karten aufmerksam betrachtet: Bei den Südlanden handelt es sich offenkundig um das spätere Mordor.

Die sich vor diesem Hintergrund anbahnende Liebesgeschichte zwischen einem Elben und einer Südländerin erinnert an ähnliche Romanzen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs zwischen deutschen Besatzern und ihren Geliebten, etwa im eroberten Frankreich. Arondir und Bronwyn scheinen durch ihre beiden Völker ähnlichen Vorurteilen ausgesetzt zu sein. Das Ganze stellt einen interessanten neuen Twist in der Geschichte dar, der sich bisher stimmig in die Tolkien-Welt einfügt.

Neue Aspekte und traditionelle Fantasy-Vorurteile hin oder her, "Die Ringe der Macht" funktioniert auch auf sich allein gestellt. Und das ist wohl der wichtigste Aspekt dieser Serienpremiere. Egal, ob der Zuschauer Tolkien gelesen und die Peter-Jackson-Filme gesehen hat oder nicht, die Geschichte, die in den ersten zwei Folgen erzählt wird, ist spannend. Das hat bodenständige Fantasy nun mal an sich: der ewige Kampf des Guten gegen das Böse, klassische Helden und epische Schurken. Klarer kann man die Fronten nicht ziehen. Daran kann man auch Spaß haben, wenn man sich vorher nicht jahrelang in Tolkiens Sagenwelt eingelesen hat.

Ja, diese Serie liefert an der einen oder anderen Stelle eindeutig Fanservice für Tolkien-Insider ab, aber das ist reines Beiwerk. Vor allem wirkt es, als haben die Autoren eine solide, wenn auch nicht revolutionäre Geschichte zu erzählen, mit bodenständigen Dialogen, die von kompetenten Schauspielern abgeliefert werden. Morfydd Clark gibt eine grossartige Galadriel, Robert Aramayo einen erstklassigen Elrond ab. Und Markellea Kavenagh setzt als Nori Brandyfoot neue Standards darin, wie man als Hobbit entzückt, ohne nervtötend zu sein (wer wollte Frodo am Ende von "Die Rückkehr des Königs" nicht selbst in den Vulkan werfen?). Dafür, dass die meisten Zuschauer viele dieser Schauspieler niemals zuvor gesehen haben dürften, ist es überraschend, wie gut diese Besetzung funktioniert.

Im Vorfeld der Premiere von "Die Ringe der Macht" gab es viele Diskussionen über die Besetzung der einzelnen Rollen und wie sehr sich die Serie in die von Tolkien beschriebene Welt einfügt. Tolkien, der Inbegriff des alten weißen Mannes, ein im 19. Jahrhundert im kolonialen Südafrika geborener, gut situierter Oxford-Akademiker von ostpreußischer Herkunft, der im Ersten Weltkrieg an der Somme gedient hatte, erschuf in seinem späteren Leben eine Fantasy-Welt, die angelsächsische Mythologie mit dem Aufstieg und Fall des Römischen Reiches verband. Er ersann eine eigene, neue britische Mythologie, seine eigene Version der Sage von König Arthur und der Tafelrunde. Eine Welt, in der Männer zu den Waffen greifen und Frauen höchstens weise Prophezeiungen von sich geben.

Der "Herr der Ringe" wird oft als eine Geschichte über Männer für Jungs bezeichnet. Und das ist nicht unbedingt falsch. Dazu befragt, warum in seinen eigenen Werken und in denen seines großen Vorbilds J. R. R. Tolkien hauptsächlich weiße Männer vorkommen, sagte George R. R. Martin einmal: "Weil diese Geschichten nun mal von alten weißen Männern geschrieben werden." Mit anderen Worten: "Der Hobbit" und "Der Herr der Ringe" sind Produkte ihrer Zeit, die auch als solche begriffen werden müssen. Was natürlich nicht bedeutet, dass neuere Adaptionen, die auf Tolkiens Werk beruhen, ähnlich an dessen historische Entstehungsgeschichte und deren Gesellschaftspolitik gebunden sein müssen.

Es ist kein Geheimnis, dass die Produzenten der "Ringe der Macht" vorhaben, weniger traditionsbewusst an diese Aspekte des Tolkien-Gesamtwerkes heranzugehen. Abgesehen von der vielleicht etwas ungeschickten Kommunikationspolitik, die im Vorfeld des Serienstarts viele Hardcore-Tolkien-Fans vor den Kopf gestoßen hat, spricht das Endprodukt – jedenfalls was die ersten zwei Folgen angeht – durchaus für sich. Warum sollte es denn auch keine dunkelhäutigen Elben geben? Nur weil Tolkien das Geschlecht der Elben durchweg als "hellhäutig" und "hellhaarig" beschreibt? Na und? Solange Ismael Cruz Córdova einen überzeugenden Elben abliefert, ist es egal, welche Haut- oder Haarfarbe er hat. Und wenn Sophia Nomvete ihre Rolle als Zwergenprinzessin Disa weiter so gut spielt wie in den ersten zwei Folgen, es doch egal, was sie abseits der Bühne von sich gibt.

Vielleicht sollten wir diesen ganzen Identitätspolitik-Blödsinn einfach ignorieren. Schauspieler sind am besten, wenn sie schauspielern. Zu sinnvollen Vorbildern im wirklichen Leben eignen sie sich fast nie. Oder auf jeden Fall weniger als die Rollen, die sie verkörpern. "Der Herr der Ringe" ist nun wirklich der ungeeignetste Ort, um diese Art von soziopolitischen Konflikten auszutragen. Und wer auch immer das Casting dieser Serie zu verantworten hat, hat angesichts der Besetzung mancher Kinder und deren Eltern offensichtlich die Mendelschen Regeln nicht verstanden – doch auch das ist geschenkt. Vielleicht gelten die Mendelschen Regeln auf Mittelerde nicht. Da gibt es schließlich auch unsterbliche Elben, Trolle und magische Ringe. Ist es nicht viel wichtiger, ob hier gute Unterhaltung geboten wird?

Ist diese Serie eine Investition von einer Milliarde Dollar wert? Anhand von zwei Folgen ist das wohl kaum zu entscheiden. Am Ende sollte das aber außer Amazon-Chef Jeff Bezos vielleicht nur seine Buchhalter interessieren. "Die Ringe der Macht" ist bisher eine sehenswerte, und sehr klassisch aufgebaute Fantasy-Serie. Mit genug Action, weitgehend schlauen und wortgewandten Dialogen und vor allem epischen Landschaftsbildern. Die Spezialeffekte sind bildgewaltig, die Musik grandios und das Ganze ist nicht zu brutal gehalten, sollte also bei Jugendlichen ebenso wie bei Erwachsene die Herr-der-Ringe-typische Abenteuerlust befriedigen. Wer Peter Jacksons Magnum Opus mochte, wird hier voll auf seine Kosten kommen. Aber auch der Gelegenheitszuschauer bekommt eine traditionelle High-Fantasy-Geschichte geliefert, die sehr gut auf eigenen Beinen steht. Im Direktvergleich zu "House of the Dragon" können "Die Ringe der Macht" das Kopf-an-Kopf-Rennen der Fantasy-Blockbuster bisher klar für sich entscheiden.

Abgesehen von der ersten Staffel "The Witcher" auf Netflix ist diese Serie das beste Fantasy im TV der letzten zehn Jahre. Es ist schon erstaunlich, was man aus dem Addendum eines Tolkien-Werks so alles herausquetschen kann, wenn man ein paar Autoren beschäftigt, die ihr Handwerk verstehen. Oder Schauspieler, die ihren Text einigermaßen glaubhaft aufsagen können. "Die Ringe der Macht" sind ein wahrer Lichtblick in der Suppe der verkorksten Remakes und verunstalteten, weichen Reboots, die Hollywood in letzter Zeit in die Welt geschwemmt hat.

Die erste Staffel von "Herr der Ringe: Die Ringe der Macht" gibt es exklusiv bei Amazon Prime Video. Diese erste Staffel besteht aus acht Folgen. Eine neue Folge wird in Deutschland jeden Freitag veröffentlicht.

(fab)