Disco Elysium durchgespielt: Eine Frage hätte ich da noch...

Seite 2: Raphaël Ambrosius Costeau, Cop ohne Marke und Dienstwaffe

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Ausgestattet mit diesen inneren Stimmen, einem sehr nüchternen Partner und ansonsten nichts außer den Klamotten am eigenen Körper ist das Ziel des Spiels, einen Mordfall zu lösen. Am Baum im Garten hinter dem Hotelzimmer des Ermittlers hängt nämlich eine Leiche. Seit Tagen. Und anstatt den Fall zu lösen, haben wir Disco-Musik gehört und Party gemacht. Wer übrigens einen Disco-Soundtrack als Teil des Spiels erwartet, wird lange suchen. Disco-Musik ist in Elysium genauso tot wie in unserer Realität. Natürlich kann man das in den Dialogen des Spiels beharrlich abstreiten. Genauso beharrlich wie man behaupten kann, der Name der Spielfigur sei Raphaël Ambrosius Costeau, auch wenn man schon lange weiß, dass das eigentlich nicht so sein kann. Trotz Mangels an Disco-Musik lohnt es sich übrigens, den Detektiv Karaoke singen zu lassen, falls man die Chance dazu hat. Das Ergebnis kann sich hören lassen.

Aber nicht nur der Mordfall will gelöst werden. Zuerst müssen wir einen unserer Schuhe finden, wenn wir nicht stundenlang mit einem nassen Socken rumlaufen wollen. Außerdem scheint unser Held seine Dienstmarke und – Ohgottohgott! – seine Waffe verlegt zu haben. Auf dem Weg durch die lange, gewundene Story des Spiels muss man sich außerdem mit Obdachlosigkeit, Arbeitskämpfen, Söldnern und Drogenschmugglern herumschlagen. Und man kann allerhand Neben-Fälle lösen. Etwa den des verschwundenen Mittelklasse-Ehemannes oder einen Fluch, der ein Gewerbegebiet zum Scheitern verurrteilt. Man kann auch ein paar Ravern helfen, einen Nachtklub in einer alten Kirche zu errichten. Eine Kirche, die ihre eigenen, unheimlichen Geheimnisse birgt.

Unter Drogeneinfluss, oder auch nüchtern, kann man sich in Disco Elysium derart in diese Seiten-Stories verlieren, dass man kaum Chancen hat, den eigentlichen Mordfall aufzulösen. Aber das macht nichts, denn in diesem Spiel geht es weniger darum, zu gewinnen, als die wirklich großartige Story zu erleben – wie beim Pen-and-Paper-Rollenspiel eben. Und genau wie bei solchen Rollenspielen agiert man mit der Welt, in dem man die Statistiken der eigenen Figur einsetzt, um die verschiedensten Checks zu bestehen. Auf diese Weise findet man Hinweise und Spuren, verhört Verdächtige und bekommt Tipps von den Stimmen im eigenen Kopf.

Über Gedanken, die man über längere Zeit im Kopf ausbrütet, fügt man der Spielfigur neue Fähigkeiten oder Boni hinzu.

(Bild: Fabian A. Scherschel)

Dabei lohnt es sich, auch schlechte Würfelergebnisse anzuerkennen und mit seinen Fehlern zu leben. Unserer Erfahrung nach macht es das Spiel viel interessanter, wenn man sich in sein Schicksal ergibt. Denn in Disco Elysium führen viele Wege zum Ziel. Auch Ergebnisse, die erst mal nach Katastrophe aussehen, können sich später als Glücksfall erweisen. Aber Vorsicht: Die physische Verfassung des Ermittlers ist derart prekär, dass man sehr schnell an Herzinfarkt sterben kann. Das fanden wir zeitnah heraus, als wir ziemlich am Anfang des Spiels in eine zu helle Lichtquelle blickten – Brustschmerzen, keine Painkiller in der Tasche, toter Detektiv.

Obwohl wir unsere Dienstwaffe schließlich wiedergefunden haben, mussten wir sie in unseren 60 Stunden in Martinaise nicht ein einziges Mal verwenden. Überhaupt kam es auch nur einmal während unserer Kampagne überhaupt zu einer Kampfsituation. In Martinaise ist es viel wahrscheinlicher, zu sterben, weil eine falsche Dialogauswahl der Spielfigur das Herz bricht, als dass man erschossen wird. Disco Elysium dreht sich vor allem um Dialoge, Beobachtungen und die inneren Gefühle der Hauptfigur; Kämpfe spielen kaum eine Rolle. Trotzdem kann einem ein kugelsicheres Kleidungsstück im richtigen Moment das Leben retten.

Selten haben wir so gute Texte in einem Videospiel erlebt. Die Welt, die Studio ZA/UM in ihrem Debüt-Spiel entwickelt hat, ist schlüssig, glaubhaft und hat überraschenden Tiefgang. Das Spiel spricht haufenweise gesellschaftsrelevante und zum Teil auch kontroverse Themen an: Sozialismus, Faschismus, Fremdenhass, Geschlechterrollen, Vergewaltigung, Mord, Drogenmissbrauch und die Rolle der Polizei in der Gesellschaft sind zentrale Themen in Disco Elysium. Hinzu kommen pointierte Beobachtungen zu Spiele-Startups, moderner Dance-Musik und eine verrückte Welt, in der Kontinente im Nichts schweben und Computer in einer Cloud aus Funkwellen rechnen.

Die Welt Elysium ist eins der fantasievollsten RPG-Settings seit Langem.

(Bild: Fabian A. Scherschel)

Die Vertonung, die sich nur auf die Hauptdialogzweige erstreckt, ist ebenfalls äußerst gelungen. Spätestens wenn der Spieler zum ersten Mal auf den jugendlichen Speed-Freak Cuno trifft, entfalten sich schauspielerische Meisterleistungen. Man kann gar nicht anders, als im einzigartigen Milieu von Revachol geradezu zu versinken. Es ist erstaunlich, was das winzige Team rund um einen Buchautor und einen Maler hier geschaffen haben. Noch erstaunlicher ist es, wenn man bedenkt, dass Disco Elysium ihr erstes Videospiel überhaupt ist.

Natürlich ist das Spiel nicht ohne Bugs und kleinere Fehler. Uns ist allerdings nichts untergekommen, was unseren Spaß an den tollen Dialogen, der atemberaubenden Welt und der innovativen aber trotzdem Nostalgie-auslösenden Spielemechanik auch nur für wenige Minuten trüben konnte.

Windows-Spieler, die sich die Frage "Welche Art Cop bist du?" stellen wollen, finden Disco Elysium für knapp 40 Euro bei Steam und GOG. Eine Version für Xbox und PlayStation 4 soll im kommenden Jahr erscheinen. (fab)