Disco Elysium durchgespielt: Eine Frage hätte ich da noch...

Das RPG eines kleinen estnischen Entwicklerstudios ist eines der besten Detektiv-Spiele aller Zeiten – und der Überraschungs-Hit des Jahres.

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Disco Elysium durchgespielt: Eine Frage hätten wir da noch...

(Bild: ZA/UM)

Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Fabian A. Scherschel
Inhaltsverzeichnis

Eine halbes Dutzend Menschen sind tot, mein Partner liegt im Krankenhaus und zwei Verdächtige sind mir entwischt und auf der Flucht – auf den ersten Blick wirkt die Bilanz meiner Mordermittlung desaströs. Trotzdem bin ich mir ziemlich sicher, dass ich den richtigen Verdächtigen festgenommen habe. Ob er später vor Gericht verurteilt werden kann, steht auf einem anderen Blatt. Das Endergebnis der Ermittlung im Detektiv-RPG Disco Elysium hat fast genauso viele Nuancen und Schattierungen, wie die Person des Detektivs, die sich der Spieler im Laufe der Untersuchung zusammenbaut. Gepaart mit der einfallsreichen Story macht diese Wandelbarkeit den größten Reiz des Spiels aus.

Auf den ersten Blick ist Disco Elysium ein der Tradition von Pen-und-Paper-Rollenspielen verpflichtetes, klassisches CRPG. Die isometrische Perspektive und mit groben Strichen gezeichneten Texturen sind uns mittlerweile durch eine neuerliche Renaissance solcher Spiele sehr geläufig. Dahinter versteckt sich allerdings ein Kunstwerk, das seines Gleichen sucht. Disco Elysium verbindet auf sehr geschickte Weise das CRPG-Genre mit Elementen aus Point-und-Click-Adventures und schafft es so, dass vielleicht beste Detektiv-Spiel in der Geschichte der Videospiele abzuliefern.

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Der Krimi ist eins der befahrensten literarischen Pflaster und auf der Leinwand jagt eine Show über Kripo-Beamte die andere. Umso verwunderlicher ist es, dass es bisher sehr wenige Umsetzungen dieses Cop-Show-Genres in der Welt der Videospiele gab. Disco Elysium, eine kleine Produktion des winzigen Indie-Entwicklers Studio ZA/UM aus Estland, liefert nun endlich, worauf wir seit Jahrzehnten warten. Es versetzt den Spieler in eine Parallelwelt der 1980er Jahre in der Metropole Revachol, die so etwas wie ein alternatives Nachkriegs-Berlin oder eine moderne, extraterritoriale Hansestadt abbildet. Nach einer gescheiterten kommunistischen Revolution übernahm eine ultraliberale, kapitalistische Handelsunion die Kontrolle.

Disco Elysium besticht vor allem durch seine außergewöhnlichen Dialoge.

(Bild: Fabian A. Scherschel)

Französische, finnische und russische Einflüsse mischen sich mit dem Englisch der Texte und der Sprachausgabe des Spiels und geben der Welt Elysium einen sehr eigenen Charakter. Eine deutsche Fassung ist momentan nicht geplant, wer in Revachol auf Verbrecherjagd gehen will, sollte also im Englischen ziemlich firm sein.

Disco Elysium findet gänzlich in einer mehrere Häuserblöcke umfassenden Nachbarschaft im Stadtteil Martinaise statt. Martinaise ist einer der ärmsten und miserabelsten Flecken in Revachol und zu allem Überfluss befinden wir uns mitten im Winter. In dieser unwirtlichen Umgebung erwacht ein zuerst einmal namenloser Mordermittler aus einem Party-induzierten Kater der Hölle.

Das Gesicht unserer Hauptfigur ist vom Alkoholmissbrauch schwer gezeichnet.

(Bild: Fabian A. Scherschel)

Der bei Videospielen äußerst beliebte Amnesie-Plot bekommt hier dadurch einen durchaus interessanten Spin, dass sich unser Detektiv buchstäblich das Gedächtnis weggesoffen hat. Das erlaubt es uns, den namenlosen Ermittler der Revachol Citizens Militia nach unseren Vorstellungen neu zu erfinden. In unserer knapp 60 Stunden umfassenden Kampagne kam dabei ein Ermittler heraus, der auf der Detektiv-Skala von Hercule Poirot bis Horst Schimanski ungefähr bei Frank Columbo liegt.

Von einem hochnäsigen Kunst-Kritiker-Cop bis hin zum Speed- und Alkohol-abhängigen Party-Kommunisten sind der Fantasie der Spieler beim Formen des eigenen Charakters fast keine Grenzen gesetzt. Wollen wir lieber im Columbo-Stil wirre Fragen um uns werfen und uns dumm stellen? Oder in bester Mick-Brisgau-Manier unsere Probleme dadurch lösen, dass wir sämtliche Regeln der Polizeiarbeit über den Haufen werfen und erst mal in die Wohnung des Verdächtigen einbrechen? Wir könnten die Verdächtigen auch bei jeder Gelegenheit über die moralischen Abgründe des Konsum-Kapitalismus aufklären oder ihnen einfach grimassenschneidend ein "I am the law" entgegenschmettern.

Überall in Martinaise verstreute Anziehsachen erlauben es uns zudem, der Spielfigur einen ganz neuen Look zu verpassen. Man muss also nicht das ganze Spiel in Schlaghose und Schlangenleder-Schuhen verbringen. Obwohl es sich durchaus lohnt, die grauenhafte Krawatte anzulassen – sie meldet sich den Rest des Spiels immer wieder mal zu Wort. Warum eine Krawatte in diesem Spiel reden kann? Nicht nur die Krawatte redet. Unser auf Abwege gekommener Party-Cop hat nämlich sämtlichen Aspekten seines Ichs in seinem Kopf eigene Figuren erschaffen, die fortlaufend mit ihm reden.

Beim Aufleveln verteilt man Punkte auf die verschiedenen Aspekte der Persönlichkeit des Detektivs.

(Bild: Fabian A. Scherschel)

Diese einfallsreiche Mechanik stellt das Skill-System des Spiels dar: Je nachdem, in welchen Aspekt seines Ichs man Punkte beim Aufleveln investiert, desto stärker oder geschickter wird die Spielfigur. Oder sie kann besser logisch denken, Ungesehenes visualisieren oder besser lügen. Die einzelnen Aspekte des Spieler-Ichs sind großartig geschrieben und passen perfekt zum jeweiligen Ausdruck der Ermittler-Seele. Die Drama-Stimme überdramatisiert natürlich alles, wohingegen die Logik immer komplett gefühllos argumentiert. Savoir Faire passt ihre Aussagen immer der aktuellen Situation an und die innere Elektrochemie will den Spieler bei jeder Gelegenheit dazu verleiten, Drogen zu nehmen. Und der Detektiv auf Speed hat in der Tat einige nicht von der Hand zu weisende Vorteile.