Erneuerbare Energie: Entlegene Siedlungen werden noch Jahrzehnte Diesel verstromen

Viele Ureinwohner Kanadas wollen ihren Dieselverbrauch zur Stromproduktion senken. Doch bei nicht ans Stromnetz angeschlossenen Siedlungen ist das erstaunlich schwierig.

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Roter Dieseltank für Heizung

Abgelegene Ortschaften sind für Heizung und Stromerzeugung auf Diesel angewiesen. Der Ausstieg hat begonnen, wird aber lange dauern.

(Bild: Aki Energy & Boke Consulting)

Lesezeit: 13 Min.
Inhaltsverzeichnis

"Entlegene Siedlungen werden noch viele Jahrzehnte auf Diesel für die Stromerzeugung angewiesen sein, bevor sie auf ihren eigenen Füßen stehen können." Diese ernüchternde Feststellung machte Prof. Eric Bibeau von der Universität Manitoba auf der Konferenz Marine Renewables in Ottawa im November. Bibeau setzt sich für einen höheren Anteil erneuerbarer Energien in entlegenen Siedlungen ein, die keinen Anschluss an ein größeres Stromnetz haben. Für eine komplette Versorgung aus erneuerbaren Stromquellen seien die technischen und finanziellen Hürden aber noch viel zu hoch.

Prof. Eric Bibeau, University of Manitoba, auf der Marine Renewables 2017 in Ottawa

(Bild: Daniel AJ Sokolov)

"Es macht einen großen Unterschied, ob sie am Stromnetz hängen oder nicht", betonte Bibeau im Gespräch mit heise online, "Viele Leute glauben, erneuerbare Energie kann Geld sparen. Das stimmt, wenn sie an einem großen Netz hängen." In einem großen Netz ändert sich die Gesamtlast nur langsam – wird hier ein Gerät eingeschaltet, wird wahrscheinlich gerade anderswo eines vom Netz getrennt.

Bei Dörfern ohne Netzanschluss führt die geringe Zahl an Abnehmern aber zu enormen relativen Verbrauchsschwankungen, die nicht vorhersehbar sind. Das stellt besondere Anforderungen an die Regeltechnik; zudem muss die Stromquelle besonders flexibel sein. Daher wird vor allem Diesel genutzt, manchmal auch Schweröl oder Erdgas.

Viele entlegene Dörfer der kanadischen Ureinwohner wollen solche Energieträger durch umweltfreundlichere ersetzen, stoßen dabei auf Schwierigkeiten: "Die Technik ist einfach noch nicht günstig und einfach genug. Solar ist gut, weil es einfach ist, aber es ist immer noch weit entfernt von der Bedienung eines Grills oder eines Gartenstuhls", verdeutlichte Bibeau.

Stromquellen entlegener Ortschaften in Kanada: Orange ist Diesel, Blau ist Wasserkraft, Violett ist Schweröl, Schwarz ist Erdgas, Gelb ist Sonstiges, Grau bedeutet "unbekannt". Nur die grün eingezeichneten Orte haben Anschluss an ein öffentliches Stromnetz.

(Bild: Natural Resources Canada (Screenshot 2017) )

Genau das sei in den entlegenen Siedlungen aber gefragt: "Das ganze System muss mit dem Schulbildungsniveau eines Zehnjährigen bedienbar sein. Es gibt dort keine Elektriker oder Dachdecker, und sie können auch keine ausbilden." Ausgebildete Handwerker würden sofort wegziehen, weil sie in einer Stadt ein Vielfaches verdienen können.

Gerade im Winter, wenn der Stromverbrauch am Höchsten ist, scheint in den nördlichen Breiten wenig Sonne, zudem vereisen die Kollektoren. Und Windenergie sei nur bedingt brauchbar. "In diesen Gebieten gibt es oft wenig Wind, zudem sind die Rotoren im Winter vereist, [was oft zur Abschaltung zwingt, um Schäden durch herumfliegende Eisbrocken zu vermeiden, Anmerkung]. Aber okay, die Windkraft muss ja nur mit den Dieselkosten mithalten können."

Ausschließlich auf Sonne und Wind zu setzen sei utopisch: "Für 2n-Redundanz müssen Sie den dreifachen Spitzenverbrauch bereitstellen. Mit Solarenergie und Windkraft, die nur zu bestimmten Zeiten verfügbar sind, bräuchten Sie riesige Akku-Anlagen. Die Leute begreifen nicht, wie viele Akkus sie für reine Wind- und Solarstromversorgung ohne Netzanschluss brauchen." Das sei völlig unerschwinglich.

Northern Ontario im November

(Bild: Daniel AJ Sokolov)

Auch die Beimischung von Wind- und Solarstrom in einem kleinen dieselbetriebenen Stromnetz ist nicht simpel. Es muss eine Methode geben, überschüssigen Strom zu verbraten, wenn die umweltfreundlichen Quellen den gesamten momentanen Strombedarf decken. Leerlauf schadet den üblichen Dieselgeneratoren, die eine gewisse Mindestlast nicht unterschreiten sollen.

Und die Generatoren abzuschalten ist aufgrund der unvorhersehbar und vergleichsweise stark schwankenden Stromnachfrage sowie der schwankenden erneuerbaren Energiequellen keine Option. Nimmt etwa ein Einwohner ein Bügeleisen in Betrieb, würde es zu lange dauern, die Dieselgeneratoren wieder hochzufahren. In der Zwischenzeit könnte die Unterversorgung das Netz beschädigen.

"Jeder kann teuer Energie produzieren. Wir müssen billige Energie schaffen", umriss Bibeau die Aufgabe. Zumal die entlegenen Siedlungen sehr arm sind. Auch Wärmepumpen seien zu teuer: "Wir haben dort oft harten Fels, was die Bohrungen teuer macht. Das kalte Klima reduziert außerdem die Effizienz der Wärmepumpen." Langfristig hofft er auf Biomasse und Wasserkraft, sei es aus Flüssen, Gezeitenkraft oder Wellenenergie aus dem Meer.

Da Solar- und Windstrom nicht durchgehend verfügbar sind, brauche es zwei weitere Stromquellen. Während Flusswasserkraft und Biomasse für die Einspeisung in größere Netze ausgereift seien, "sind wir für kleine Netze mit etwa einem Dutzend Haushalten noch nicht so weit", bedauerte der Ingenieur.

Beispielsweise werden die notwendigen Trafos, die den von kleinen, getriebelosen Flussturbinen erzeugten Strom stabil in ein kleines lokales Netz einspeisen, nicht in Serie gefertigt. "Es wird zehn bis 20 Jahre dauern, bis das alles kommerziell tragfähig ist", fürchtet Bibeau. Erst dann könne die Installation in Stückzahlen beginnen.

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Der Markt existiert: "Wir haben in Kanada zirka 170 entlegene Ureinwohner-Ortschaften mit insgesamt zirka 127.000 Einwohnern. Dazu kommen 120 andere entlegene Siedlungen mit etwa 68.000 Einwohnern", schilderte der Professor. "Die Ureinwohner begreifen die Herausforderung. Sie wollen auf erneuerbare Energien umsteigen." Sie spüren auch schon die Auswirkungen des Klimawandels. Schlagzeilen machen etwa verhungernde Eisbären oder unbrauchbar gewordene Eisstraßen, die oft die einzige Verbindung zur Außenwelt auf dem Landweg waren.

Zur Unterstützung der Entwicklung neuer Wasserkraft-Technik hat die Universität von Manitoba eine Turbinentestanlage im Winnipeg-Fluss eingerichtet: Das Canadian Hydrokinetic Turbine Test Centre (CHTTC), dessen Direktor Bibeau ist.

Am Canadian Hydrokinetic Turbine Test Centre (CHTTC) wird eine Venturi-Turbine für einen Test vorbereitet.

(Bild: CHTTC)

Auf der Konferenz Marine Renewables wurden kleine Flussturbinen gezeigt. Sie sollen, ohne Staumauer, in Flüsse gestellt werden, um Strom zu erzeugen. In der Praxis kämpfen sie aber mit Frazil-Eis, das die Flussturbinen im Winter monatelang unbrauchbar machen kann. Außerdem sind sie Geröll, Baumstämmen und ähnlichem ausgeliefert, was die kleinen Turbinen beschädigen oder das Wasser lokal ausbremsen kann.

Überhaupt sind Flussturbinen wenig ergiebig: "Das ist die niedrigste Stufe der Wasserkraft. Die Energiedichte ist gering", erklärte Bibeau. Zudem schwanke auch hier die Stromerzeugung, wenngleich weniger stark als bei Solar- und Windenergie: "Also bräuchten wir bei Flussturbinen weniger Akkus." Daher sucht Bibeaus CHTTC per Satellit nach Flüssen, die in unmittelbarer Nähe zu entlegenen Siedlungen ausreichende Strömungsgeschwindigkeiten aufweisen.

Aber egal, ob es Flussturbinen, Gezeitenkraft oder Wellenenergie-Bojen sind, "diese Turbinen müssen zehn bis 20 Jahre 24 Stunden am Tag wartungsfrei laufen. Und sie müssen deutlich billiger werden". Die Wartungsfreiheit ist besonders wichtig, weil Wartungsarbeiten durch Experten prohibitiv teuer wären.

Diese Erfahrung musste die Firma Mavi Innovations aus Vancouver machen, wie deren Manager Voyteck Klaptocz in Ottawa berichtete. Mavi Innovations hat eine kleine Gezeitenkraftturbine entwickelt. Sie kommt ohne Staumauer aus und kann dort Strom erzeugen, wo Ebbe und Flut durch eine Meeresenge müssen und dabei hohe Strömungsgeschwindigkeiten aufweisen – in einer natürlichen Venturi-Düse, also.

Voytek Klaptocz, Managing Director bei Mavi Innovations, auf der Marine Renewables 2017 in Ottawa

(Bild: Daniel AJ Sokolov)

Zwischen West Thurlow Island und East Thurlow Island, zwei Inseln die zwischen der Westküste Kanadas und Vancouver Island liegen, gibt es eine solche natürliche Venturi-Düse. Das auf West Thurlow Island gelegene Blind Channel Resort erzeugt seinen Strom mit Diesel, was etwa 40.000 Dollar jährlich kostet. Diese Kosten und die damit verbundenen Treibhausgase hätte das Resort gerne reduziert. Also installierte Mavi seine Turbine, was auch von der Provinz finanziell gefördert wurde.

"Würde das perfekt funktionieren, könnten wir dem Resort jährlich 11.000 Dollar sparen", erklärte Klaptocz heise online, "Doch leider sind wir noch nicht so weit, dass das autonom läuft." Immer wieder hätten Fachleute wegen technischer Probleme anreisen müssen. "Das kostet uns jedes mal 10.000 Dollar."

Dabei sind die Thurlow-Inseln für kanadische Verhältnisse keineswegs entlegen. Die Stadt Campbell River auf Vancouver Island ist in 45 Minuten Bootsfahrt erreicht, ähnlich lange dauerte ein Flug mit einem Wasserflugzeug aus Vancouver. Was fehlt, ist ein Investor, der die Weiterentwicklung der Gezeitenturbine und ihres Zugehörs finanziert.

Blick von der Insel West Thurlow, Britisch-Kolumbien

(Bild: Salvation II at Blind Channel Resort, A.Davey CC BY 2.0)

"Ich glaube nicht, dass wir den Klimawandel auf der Verbrauchsseite lösen können. Wir müssen uns auf die Energiequellen konzentrieren, und das auf nationaler Ebene, auf kommunaler Ebene und bei einzelnen Haushalten", betonte Bibeau im Gespräch mit heise online. Beim Stromverbrauch erwartet er eine Vervielfachung: "Der Verkehr wird elektrifiziert und die Heizungen werden elektrifiziert", um den Ausstoß von Treibhausgasen zu reduzieren. "Daher müssen wir Technik finden, die kosteneffizient den Anteil erneuerbarer Energien bei der Stromerzeugung erhöht", erklärte der Professor.

Gleichzeitig empfiehlt er einen Sinneswandel: "Entlegene Siedlungen müssen ihre Spitzenlasten unter Kontrolle halten und sich von der Idee des Weißen Mannes verabschieden, wonach man immer alles machen kann wann man gerade will. Vielleicht sollte man nicht Wäsche waschen wenn momentan keine Sonne scheint. Der Unterschied macht etwa 50.000 Dollar pro Person aus [die investiert werden müssten, um umfassende Stromversorgung zu jeder Zeit zu gewährleisten]. Die Einwohner können das nicht wissen, solange sie Diesel verstromen."

Doch auch bei Ingenieuren und Lieferanten sei Umdenken angezeigt, um erneuerbare Energieversorgung einfacher, verlässlicher und vor allem günstiger zu machen. Dazu gehört auch, die Baumethoden an lokale Gegebenheiten anzupassen. Bei einem aus Bundesmitteln finanzierten Projekt im Northlands-Reservat der Dënesųłiné (etwa 630 Einwohner) in der Provinz Manitoba wurde dieses Jahr ein Nahwärmenetz errichtet.

Statt wie bisher auf Diesel wird nun auf Biomasse sowie Wärmepumpen gesetzt, die dem lokalen See Lac Brochet Wärme entziehen. Der Haushaltsstrom kommt nach wie vor von Dieselgeneratoren. Weil die Wärmepumpen nicht wieder den Dieselverbrauch erhöhen sollen, wurde zusätzlich eine 280 kW Photovoltaik-Anlage errichtet – die größte in ganz Manitoba.

Northlands ERAAES (11 Bilder)

Dieseltank

Am Lac Brochet im Northlands-Reservat der Dënesųłiné First Nation soll Diesel als Wärmequelle abgelöst werden. Das Projekt heißt Environmental Remediation And Alternative Energy Systems (ERAAES) und wird aus Bundesmitteln finanziert. (Bild: Aki Energy & Boke Consulting)

Die Paneele mussten beschwert werden, um Stürmen trotzen zu können. Üblicher Weise wird dafür Zement verbaut, der aber zu hohen Kosten per Hubschrauber angeliefert werden müsste. Daher setzte Projektmanager Boke Consulting auf Gabione, die mit Gesteinsbrocken gefüllt wurden. Sie wurden in der Region eingesammelt und mit Schneemobilen angekarrt. "Das hat viel Geld gespart", freute sich Bibeau. Er hofft, dass solch unorthodoxe Lösungen Schule machen.

Eine andere Möglichkeit wäre der Anschluss entlegener Siedlungen an ein größeres Stromnetz. Das ist gerade für die relativ leicht erreichbare und vergleichsweise große Siedlung Pikangikum in Arbeit. In der in Ontario gelegenen Kleinstadt leben zirka 2300 Personen. Die Hochspannungsleitung war bereits 1999 in Arbeit. Nachdem ein Drittel der Masten errichtet worden war, wurde das Projekt abgebrochen.

Die Suizidrate in Pikangikum ist hoch, angeblich die höchsten Suizidrate der Welt. Lebensmittel oft unerschwinglich. Die lokalen Dieselgeneratoren sind unterdimensioniert, was zu Stromrationierung und regelmäßigen Ausfällen führt. 80 Prozent der Häuser haben kein Fließwasser, weil es nicht genügend Strom für die Pumpen gibt. Und selbst manche Familien mit fließendem Wasser sind gezwungen, es vor dem Genuss abzukochen.

Die Stromausfälle behindern die lokale Wirtschaft, was zur Arbeitslosenrate von 90 Prozent beiträgt, lassen die Schule und das Geschäft immer wieder geschlossen und führen zu beengten Wohnverhältnissen, weil keine neuen Gebäude an das lokale Netz angeschlossen werden. Ohne Strom können die Einwohner nicht einmal das Wasser abkochen. Zusätzliche Dieselgeneratoren wären teuer und stellen für die Ureinwohner auch nicht die richtige Zukunftsinvestition dar.

Schnee und Eis lassen regelmäßig Äste bersten, die dann Stromleitungen mitreißen.

(Bild:  Ryan Hodnett CC-BY-SA 4.0)

An Wäschetrockner ist angesichts des Strommangels nicht zu denken. Überbelag und der Mangel an Wäschetrocknern erhöhen wiederum den Stromverbrauch: Die Luftfeuchtigkeit in den Gebäuden ist hoch, weshalb auch im Winter viel gelüftet werden muss, was wiederum den Heizbedarf erhöht.

Dank eines Zuschusses aus dem Bundesbudget von bis zu 60 Millionen Dollar soll die 117 Kilometer lange Hochspannungsleitung nach Pikangikum nun endlich fertiggestellt werden. Alleine dieser Zuschuss macht pro Kopf mehr als 25.000 Dollar aus. Geholfen hat hier die Empfehlung des Coroners Ontarios: Der Netzanschluss soll helfen, die hohen Suizidraten in Pikangikum zu senken.

Doch je kleiner eine Siedlung ist, desto schwieriger wird es, die notwendigen Subventionen für einen Netzanschluss politisch zu rechtfertigen. 21 weitere Siedlungen in Ontario mit insgesamt gut 10.000 Ureinwohnern wollen (oder müssen) es dennoch probieren. Sie haben gemeinsam das Projekt Wataynikaneyap Power ins Leben gerufen. Ziel ist die Errichtung eines Hochspannungsnetzes, das 17 der Siedlungen erstmals an Ontarios Stromnetz anschließen soll.

Wataynikaneyap Power: Diese Ureinwohnersiedlungen im Nordwesten Ontarios wollen gemeinsam den Anschluss an das Stromnetz der Provinz erkämpfen.

(Bild: ontario.ca)

Allerdings sind die Kosten noch viel höher als in Pikangikum: Alleine die Kapitalkosten des Projekts wurden 2015 auf 1,35 Milliarden kanadischer Dollar geschätzt. Umgelegt auf die gut 10.000 Einwohner ist das ein sechsstelliger Betrag pro Kopf. Wataynikaneyap Power führt ins Treffen, dass das Hochspannungsnetz bis 2060 eine Milliarde Dollar sparen würde. Aus den veröffentlichten Unterlagen geht nicht hervor, woraus sich diese Einsparungen ergäben.

Selbst wenn die Ureinwohner das Projekt stemmen können, müssten sie weiterhin Dieselgeneratoren und Diesel als Backup bereithalten. Stürme, Schnee und Eis führen zu Leitungsschäden, was selbst in kanadischen Städten regelmäßig zu Stromausfällen führt. In entlegenen Regionen kann es Wochen dauern, bis sich die Reparaturteams zum Schadensort durchgekämpft haben. (ds)